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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock
Autoren: Enrique Cortés
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alleine um ihn und hatte kaum Zeit gefunden, mal etwas trinken oder ins Kino zu gehen. Die Arbeit und ihr Bruder waren
     zwar das Wichtigste in Isabels Leben, aber so gern sie das alles tat, manchmal wurde es ihr einfach zu viel. ›But she breaks
     just likea little girl‹

    Sie erhob sich und zog das Schlafsofa aus, das im Wohnzimmer stand. Dann holte sie ihr Bettzeug aus dem Schrank. Sie war müde.
     Sie würde ihren Wecker eine halbe Stunde früher stellen und den Bericht vor der Arbeit fertig tippen. Sie legte sich hin und
     dachte an ihre Mutter. Isabel hatte ihr versprochen, dass sie auf den Bruder aufpassen würde, wenn ihr etwas zustieß. Natürlich
     hätte sie das auch ohne Versprechen getan. Ihr Bruder war das Beste, was sie auf der Welt hatte. Wenn auch er einmal jemanden
     finden könnte, würden sie zu viert auf dem Sofa sitzen und gemeinsam Dylans Harmonika lauschen. Ja, wenn es mal so käme, wer
     weiß   …
    Eine halbe Stunde später schaltete Teo den C D-Player aus und küsste Isabel aufs Haar, dann knipste er das Licht aus und überließ sie ihren Träumen.

2
    Noch im Halbschlaf stellte Isabel den Wecker ab. Sie brauchte ein paar Minuten, um die Augen zu öffnen und zu begreifen, dass sie ihren Bericht
     für das Meeting noch nicht fertig hatte. Schnell sprang sie auf und hastete unter die Dusche. Drei Minuten, mehr war nicht
     drin. Dann zog sie sich an und stellte zwei Croissants zum Aufbacken in die Mikrowelle. Sie hörte, wie Teos Zimmertür aufging.
    Er steckte den Kopf zur Küchentür herein, gähnte und rieb sich die Augen, während sie ihren letzten Schluck Milch nahm.
    »Morgen, Isa«, sagte er.
    »Guten Morgen, Teo. Wie war’s gestern?«, fragte sie und eilte auch schon an ihm vorbei. Sie musste die letzten Sätze für ihren
     Bericht tippen, bevor sie das Haus verließ.
    »Gut. Ich hab deinen Zettel gefunden«, antwortete Teo, der ihr ins Wohnzimmer hinterherhinkte. Seine leichte geistige Behinderung
     verursachte manchmal Bewegungsstörungen, vor allem nach dem Aufstehen. »Kann ich dir helfen?«
    Isabel schüttelte den Kopf. »Nein, Brüderchen. Ich bin gestern Nacht eingeschlafen, stimmt’s?«
    »Ja. Ich hab dir den Wecker gestellt. Ich hab ihn gestellt.«
    »Danke. Ohne dich würde ich zu spät zur Arbeit kommen.«
    Teo setzte sich aufs Sofa und sah Isabel zu, wie sie den Bericht fertig schrieb. Viele Menschen hätte das nervös gemacht,
     aber sie war daran gewöhnt.
    »Heute läuft eine Doku über Pyramiden«, sagte er nach einer Weile. »Habe ich auf der Arbeit gehört. Ich nehm sie auf, und
     wir schauen sie uns heute Nacht zusammen an, ja?«
    »Aber klar doch, mein Lieber«, sagte Isabel und blickte kurz von der Schreibmaschine auf.
    Seit Wochen hing Teo mit einer unerklärlichen Leidenschaft an dem Thema Pyramiden. Stundenlang starrte er auf ein Poster,
     das Vera ihm geschenkt hatte. Er hatte sich sogar durchgerungen, sein ›Taxi-Driver‹-Poster abzuhängen, um Platz dafür zu schaffen.
     Nun konnte er sich aufs Bett legen und die Pyramiden ansehen, die Dromedare, den glitzernden Sand, und sich dabei vorstellen,
     wie sein Körper, der für sein Alter wenig entwickelt war, nur so über die Dünen flog. Seit seine Schwester ihm versprochen
     hatte, dass sie im Sommer einige Tage in Ägypten verbringen würden, war Teo der glücklichste Junge der Welt. Aber dafür musste
     sie gute Arbeit machen und ihren Bericht fertig bekommen.
    Fünf Minuten später zog sie erleichtert das Blatt aus der alten Schreibmaschine und steckte es zusammen mit den anderen in
     ihrer Arbeitstasche.
    »Komm, mein Kleiner, geh wieder ins Bett und schlaf noch ein bisschen, ja?«, sagte sie, während sie im Flur schon den Mantel
     anzog.
    »Nein, ich muss Zeichentrickfilme gucken«, rief Teo ihr aus dem Wohnzimmer hinterher. »Mach’s gut!«
    »Danke.«
    Isabel zog sachte die Tür hinter sich zu und seufzte, während sie auf den Aufzug wartete. Ihr Bruder war ebenso vernarrt in
     die Zeichentrickserien wie in Kinofilme, aber die Sender hatten fast alle aus dem Programm genommen. Teo hatte von klein auf
     fasziniert verfolgt, wie der Coyote vergeblich hinter Road Runner herlief, und noch immer sah er das gerne, wenn er früh genug
     aus dem Bett kam. Danach würde er frühstücken und ein wenig malen. Oder er ging ein paar Schritte um den Block. Teo hätte
     sich gerne weiter weggewagt, aber Isabel hatte es ihm verboten. Den Weg zur Arbeit kannte er in- und auswendig, aber sonst
     war die
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