Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock
Autoren: Enrique Cortés
Vom Netzwerk:
Stadt allzu groß, und er hätte sich verlaufen können.
    Isabel hatte Glück, der Wagen sprang auf Anhieb an. Sie danktedem Himmel für ihren Garagenplatz, denn draußen hätte der alte Ford den Winter sicher nicht überstanden.
     
    Auf den Straßen herrschte noch nicht viel Verkehr. Eine sanfte Morgensonne spiegelte sich orange glänzend in den Hunderten
     Glasfenstern des Turms. Isabel stellte ihren Wagen ab und ging mit eiligem Schritt zum Aufzug.
    »In den zwölften Stock, bitte«, sagte sie zu dem jungen Fahrstuhlführer, der ihr nicht mal einen Guten Tag wünschte.
    Als der Aufzug schließlich Isabels Stockwerk erreichte, ging sie schnurstracks in ihr Büro. Vanillearoma hing im Raum und
     brachte sie zum Lächeln. Sie freute sich immer, ihren Bruder so nah zu spüren, auch wenn er weit weg war. Isabel legte den
     Mantel ab, nahm Platz und begann, die Blätter ihres Berichts zu ordnen. Sie sah auf die Uhr. Noch über eine Stunde bis zum
     Meeting, Zeit genug, das Ganze noch zu kopieren.
    Am Kopierer stand jedoch dieses aufdringliche Klatschmaul von Miguel David.
    »Der muss noch warm werden, ich habe ihn gerade erst eingeschaltet«, sagte er und deutete auf das Gerät. »Heute entscheidet
     ihr über die Entlassungen, nicht wahr?«
    »Ja«, erwiderte Isabel knapp.
    Miguel war vor wenigen Monaten aus einer anderen Abteilung gekommen. Er sprach mehrere Sprachen und kannte sich ansonsten
     vor allem mit Gerüchten über seine Kollegen aus. Isabel war schon vielen solcher Menschen begegnet und mied ihn, so gut sie
     konnte.
    »Glaubst du, dass Rai dich überhaupt zu Wort kommen lässt?«, fragte er.
    Das grüne Licht am Kopierer leuchtete auf.
    »Musst du was kopieren?«, fragte Isabel zurück.
    Miguel zuckte die Achseln und streckte mit übertriebener Höflichkeit den Arm aus:
    »Bitte sehr, Eure Majestät, Ihr zuerst.«
    Isabel kümmerte sich nicht weiter um ihn, machte ihre Kopienund ging zurück in ihr Büro. Sie mochte Miguel David nicht. Sie hatte ihm gegenüber nie erwähnt, was sie von den Entlassungen
     hielt, aber Miguel hatte seine eigenen Informationsquellen. Und er war nicht nur eine Klatschbase, sondern auch ein Mobber,
     der Kollegen durch gezielt gestreute Gerüchte unbeliebt machte, bis sie sich versetzen ließen.
    Isabel kannte immer weniger von den Mitarbeitern auf ihrer Etage. Ihre früheren Kollegen waren in andere Stockwerken versetzt
     worden oder arbeiteten gar nicht mehr in der Konzernzentrale, sondern irgendwo in einer entfernten Niederlassung. Wenn sie
     sich ihre neuen Kollegen so ansah, kam es ihr manchmal vor, als hätte jemand in der Geschäftsleitung beschlossen, den zwölften
     Stock zu einem Sammelplatz für Mitarbeiter zu machen, die nirgends sonst hinpassten. So wie Rai, der zwar ihr unmittelbarer
     Vorgesetzter war, aber bei Señor Hernán, dem Abteilungsleiter Human Resources, im Gegensatz zu Isabel nicht besonders hoch
     im Kurs stand. Obwohl Rai das nicht offen sagte, hatte er Isabel deswegen auf dem Kieker und widersprach ihr bei jeder Gelegenheit,
     vor allem wenn sie für ein gewisses Maß an Menschlichkeit eintrat, so wie in dem Bericht, den Isabel gerade zusammenheftete,
     um ihn den Teilnehmern des Meetings auszuhändigen. Immerhin war Alberto Hernán der Chef der Abteilung, und er würde sie anhören,
     bevor er sich eine abschließende Meinung zu den Entlassungen bildete.
    Isabel überprüfte, dass nichts fehlte, nahm ihre Aktentasche und die Berichte und ging auf Hernáns Büro zu. Es war abgeschlossen,
     allerdings stand die Tür zum Nebenzimmer, dem Besprechungsraum, offen, und von drinnen waren Stimmen zu hören. Die übrigen
     Teamleiter unterhielten sich gerade angeregt über das Fußballspiel vom Vorabend.
    »Guten Morgen, Isabel«, begrüßte sie Hugo Arias, der Dienstälteste unter den Anwesenden. »Hast du Alberto irgendwo gesehen?«
    Isabel schüttelte den Kopf. Keiner der anderen Kollegen hätte es gewagt, Señor Hernán beim Vornamen zu nennen, aber Hugokannte es nicht anders. Er hatte noch die Zeiten erlebt, in denen das Unternehmen noch nicht ins Ausland expandiert hatte,
     und hielt dank seiner langjährigen Tätigkeit ein kleines Aktienpaket, das ihm, wie er selbst sagte, einen bescheidenen Posten
     in der Personalabteilung sicherte. Er brauchte nicht zu befürchten, vor dem nahen Ruhestand gehen zu müssen.
    »In seinem Büro scheint er nicht zu sein   …«, begann Isabel, als die Tür im hinteren Teil des Raums aufging. Sie verstummte.
    Rai
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher