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Der 26. Stock

Titel: Der 26. Stock
Autoren: Enrique Cortés
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Gruß nicht erwiderte. Isabel
     suchte die Regale nach Kaffee ab. Aber sie sah nur koffeinfreies Zeug, von normalem Kaffee keine Spur. Sie wandte sich an
     die Verkäuferin.
    »Entschuldigung, haben Sie auch normalen Kaffee?«
    Die junge Frau nahm mit missmutiger Miene das Handy vom Ohr.
    »Nur, was in den Regalen steht«, sagte sie und konzentrierte sich dann wieder auf ihr Telefonat.
    Toller Service, ging Isabel durch den Kopf.
    »Señorita Alvarado!«, hörte sie da plötzlich eine Stimme in ihrem Rücken.
    Sie drehte sich um und musterte verwundert den blonden jungen Mann, der lächelnd auf sie zukam. Sein Gesicht kam ihr bekannt
     vor, aber sie konnte es nicht zuordnen.
    »Sie erkennen mich nicht, stimmt’s?«, sagte er, als er ihre halb überraschte, halb verwirrte Miene bemerkte.
    Isabel schüttelte den Kopf.
    »Macht nichts, ist ja normal. Wie lange ist das her? Schon fast   … zehn Monate. Mein Name ist Carlos Visotti. Ich war bei Ihnen zum Bewerbungsgespräch.«
    Nun fiel es ihr wie Schuppen von den Augen. Der junge Jurist mit italienischem Vater, der beim Bewerbungsgespräch so einen
     sympathischen Eindruck hinterlassen hatte! Sein Lächeln und seine ruhige, offene Art hatten dazu beigetragen, dass er ohne
     Schwierigkeiten einen Job in ihrem Unternehmen bekam.
    »Ach ja, klar, entschuldigen Sie. Ich hatte Sie nicht gleich erkannt. Wie geht’s?«
    »Gut«, antwortete er. »Ich wohne ganz hier in der Nähe. Das Alleinewohnen bin ich allerdings noch nicht so ganz gewohnt, und
     so ernähre ich mich eben von Fertiggerichten.«
    Isabel fiel ein, dass er bei dem Gespräch erwähnt hatte, er lebe noch bei seinen Eltern. Sie merkte sich immer ein paar persönliche
     Fakten über ihre Bewerber. Sie fand es schade, all diejenigen aus den Augen zu verlieren, über die sie ein positives Urteil
     abgegeben hatte, und sie freute sich, wenn sie dem einen oder anderen auf dem Gang oder im Aufzug begegnete und gegrüßt wurde.
     Aber in einem Großunternehmen kam das nicht allzu häufig vor.
    »Und wie geht es Ihnen? Die Erkältung haben Sie anscheinend gut überstanden.«
    Verwundert blickte sie ihn an. Sie konnte sich nicht erinnern, damals krank gewesen zu sein. Merkwürdig, wie man sich immer
     an Einzelheiten von anderen erinnerte, bei sich selbst fiel ihr das viel schwerer.
    »Gut, danke der Nachfrage. Aber wollen wir uns nicht duzen? Ich glaube, wir sind nur ein paar Jahre auseinander.«
    Carlos lächelte. Isabel fühlte sich seltsam zu ihm hingezogen.
    »Du hast ein gutes Gedächtnis. Wohnst du auch in der Nähe?«
    »Ja, ich wohne mit meinem Bruder zwei Straßen weiter.«
    Isabel warf unwillkürlich einen Blick in den Einkaufskorb, den Carlos in der Hand hielt. Neben einer Tiefkühlpizza und mehreren
     Keksschachteln stach die unverwechselbare Glasdose heraus, in der ihre Lieblingssorte Kaffee verkauft wurde.
    Der war drauf und dran, ihr den letzten Kaffee vor der Nase wegzukaufen! Isabel runzelte die Stirn. Sonst war sie ja nicht
     so, aber der Gedanke, entweder mit dem Auto irgendwo Kaffee kaufen zu fahren oder ganz ohne arbeiten zu müssen, gefiel ihr
     gar nicht. Sie wollte sich schon von Carlos verabschieden, da erklang hinter ihr die schrille Stimme der Verkäuferin:
    »Hallo, hören Sie! Koffeinfrei hätten wir noch, da drüben.«
    Isabel wandte sich zu ihr um.
    »Nein, danke. Ich wollte normalen Kaffee.«
    Die Verkäuferin zuckte die Schultern. Ihr Gesichtsausdruck sagte unmissverständlich: Na gut, ich habe getan, was ich konnte.
    »Ach so, du wolltest Kaffee?«
    Isabel drehte sich wieder zu Carlos um, der die Kaffeedose aus dem Korb genommen hatte und sie ihr entgegenhielt.
    »Nimm, das war die letzte. Du kannst sie haben.«
    Sie schüttelte den Kopf. »Nein, danke. Das ist sehr nett von dir, aber   …«
    »Doch, wirklich«, wiederholte Carlos. »Ich habe noch eine halb volle Dose zu Hause. Ich hätte den Kaffee einfach so mitgenommen,
     aber ich brauche keinen. Ehrlich.«
    Isabel sah gleich, dass er schwindelte. Sie wusste seine Geste zu schätzen, aber dass er leer ausging, wollte sie auch nicht.
     Nach mehreren Überredungsversuchen gab Carlos sich geschlagen.
    »Also gut. Aber lass dich wenigstens nach Hause fahren. Ich habe mein Motorrad draußen. Es ist schon spät und ganz schön kalt.«
    Isabel nahm das Angebot an. Sie störte weniger die Kälte als die spärliche Straßenbeleuchtung, die die Stadtverwaltung ihrem
     Viertel zuteilwerden ließ. »Wir machen ökonomisch finstere Zeiten
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