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Denkanstöße 2013

Denkanstöße 2013

Titel: Denkanstöße 2013 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Isabella Nelte
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in den kommenden Tagen durch die Mühle gedreht werden wird, es warten Verhöre, Zurechtweisungen, Strafen, vielleicht sogar die Relegation von der Schule auf ihn. Aber er wird nichts widerrufen, denn es gibt nichts zu bereuen. Was er getan hat, musste er tun, und er würde es gegebenenfalls wieder tun, wenn ihm danach ist.
    Schon am 9. März trifft ein langer Brief seines Vaters ein. Er hat den eigentlichen Grund für das Abenteuer seines Sohnes sofort begriffen: »Du hast so viel privatim gelesen, seit Du in Maulbronn bist, soviel mit deutscher Literatur und auch mit eigenem Dichten Dich beschäftigt, daß wir nicht glauben können, es sei Dir genug Zeit und innere Kraft geblieben für die eigentliche Arbeit.« Für Johannes Hesse ist das Schreiben von Poesie eine Form der Selbstherrlichkeit, die Hermann von seiner eigentlichen Bestimmung, dem Pfarrberuf, ablenkt. Er legt ihm nahe, vor allem die zehn Gebote an sich zu prüfen und dabei besonders das erste zu beachten, das den »Götzendienst« um das eigene Ich verbiete. Er trifft damit ins Herz seines Sohnes, der eben begonnen hat, dem Eigenen, seinem Selbst auf die Spur zu kommen. Hermann müsse sich prüfen, so der Vater weiter, ob er sich selbst tatsächlich für das Wichtigste halte, denn das gehe auf Kosten seiner Mitmenschen. Noch deutlicher ist sein Verweis auf das Gebot, Vater und Mutter zu ehren, denn hier drohe der Verlust des Heils. Der Brief endet mit dem biblisch anmutenden Satz: »Ich sage Dir: Beim Heiland hat mans gut. Probier es mit Ihm.«
    Die freundliche Diktion kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass hier die Autorität mit der Macht des Gesetzes droht. Doch Hermann lenkt erst einmal ein und dankt seinem Vater dafür, dass man ihm trotz seines Vergehens Verständnis entgegenbringt. »Bitte liebt mich noch wie vorher«, schreibt er in seinem kleinlauten Antwortbriefchen. Er spürt, dass dieser Konflikt noch nicht ausgestanden ist. Nur zwei Tage später erhält Hermann einen weiteren Brief, in dem Johannes Hesse ihm seine Lesart elterlicher Liebe mitteilt: »Liebe ist Sehnsucht nach Gemeinschaft, nach Übereinstimmung. Uns verlangt danach, mit Dir eins zu werden.« Dieses Einswerden sei aber an Bedingungen geknüpft, die Hermann erfüllen müsse, um dieser Liebe teilhaftig zu werden: » Unser höchster Lebenszweck ist, Gott zu gefallen und Ihm in Seinem Reich zu dienen. Wenn das auch Dein Lebenszweck geworden ist, dann haben wir Gemeinschaft untereinander, dann ist alles Licht, Liebe und Freiheit.« Nur durch »Selbstüberwindung« könne Hermann »ein gehorsamer Sohn sein«.
    Verfehlt diese pietistisch verengte Auffassung nicht das Wesen wahrer Liebe, die den anderen auch in seiner Andersartigkeit annimmt und gerade in diesem Hinnehmen des Gegensätzlichen ihre Selbstlosigkeit beweist? Hermann täuscht sich nicht über die Kompromisslosigkeit dieser Haltung, die nur die engen Grenzen christlicher Tugend gelten lässt und in der kein Platz ist für die Freiheit der Anschauung und der Kunst; aber noch ist er zu schwach und erschöpft, um sich dagegen aufzulehnen. Dafür lobt er dem Vater gegenüber die verständnisvolle Art, mit der die Schulleitung auf den Fluchtversuch reagiert hat: Trotz der Schwere des Verstoßes ist ihm die eher milde Strafe von acht Stunden Karzer bei Wasser und Brot auferlegt worden. Man habe ihm auch die verhassten Geigenstunden bei Musiklehrer Haasis erlassen, berichtet er mit einem Anflug von Schadenfreude, denn kurz zuvor hatte Johannes Hesse seinen Sohn noch brieflich ermahnt, auch Unangenehmes zu ertragen, weil es »Gott will «. Hermann darf in seiner beheizten Zelle Homer lesen und schreibt in einem erstaunlich gefassten, fast kühlen Brief am 12. März an seine Eltern: »Professor Paulus und auch die beiden Herrn Repetenten behandeln mich sehr schonend und rücksichtsvoll.« In einem Gedicht, das er im Karzer zu Papier bringt, klingt das allerdings viel melodramatischer:
    Kennst Du das Land, wo keine Blumen blühen,
    Den finstern Kerker, den kein Gott besucht?
    O wehe dem, der dahin musste ziehen,
    O Hundeloch, sei tausendmal verflucht!
    Die Parodie auf Goethes Mignon-Lied ist natürlich mit Blick auf die Kameraden geschrieben, die sehen sollen, über welch literarischen Witz er noch immer verfügt.
    Die Tage in Maulbronn sind für Hermann gezählt. Trotz ihres Wohlwollens

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