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Den Oridongo hinauf (German Edition)

Den Oridongo hinauf (German Edition)

Titel: Den Oridongo hinauf (German Edition)
Autoren: Ingvar Ambjørnsen
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der eben gesagt hat: »Du bist schön.« Oder war das etwas Fremdes, das durch mich geflüstert hat? Ist es vielleicht nur mein Gefühl von Fremdheit?
    Ich erinnere mich an ein Erlebnis aus meiner Kindheit. Ich muss sechs, vielleicht sieben Jahre alt gewesen sein. Ich bin in der Hütte meiner Großeltern, irgendwo in Brunlanes. Ich muss ohne Mutter da gewesen sein, es war in dem Sommer, in dem sie nicht da war, ich habe niemals feststellen können, warum nicht, wo sie war, ich habe sie nie gefragt, ich hatte eine Ahnung, dass ich die Sache auf sich beruhen lassen sollte. Aber es ist Sommer und warm, diese trockene Luft, die nach Wochen ohne Regen über dem Kiefernwald liegt, gewürzt von Harz und Rinde, und ich knie auf dem Boden und spiele mit Tannenzapfen und trockenen grauen Stöckchen, ich kann mich noch immer daran erinnern, wie glatt diese Stöckchen sich unter meinen Fingerspitzen anfühlen. Heidekraut. Hier wächst weißes Heidekraut, und Myriaden von Insekten wimmeln über den Boden, kriechen durch das Heidekraut und tanzen in seltsamen gebrochenen Bahnen durch die Luft. Ja, die Luft scheint zu leben, als erhalte sie durch die Insekten ein eigenes Lied, und tief in dieser Melodie liegt ein zitternder Grundton, der mich nach und nach füllt, in mir aufsteigt, ich muss fast weinen, und ich habe keine Ahnung, warum, was in mir und um mich herum geschieht, ist etwas Neues, etwas, das ich noch nie erlebt habe, eine Art Mitleid mit etwas, das ich nicht kenne, liegt es an den Bäumen, den großen, windgebeutelten Kiefern, den winzigen Lebensfunken, die sich in den Insekten zeigen, den Flügeln, durch die das Sonnenlicht fällt, den Facettenaugen, den grün schimmernden Panzerleibern, den Zangen, die Tannennadeln und lebende Beutetiere tragen? Alles scheint seinen Platz zu finden. Alles, was ich sehe und höre, scheint zu verschmelzen, kein Teil von mir, sondern ich zu werden, als würde ich der Wald und die warme Luft, die Bäume und die Sonne, die sich ihren Weg durch die Welt brennt, das tropfende Licht von den Zweigen, das über die Hände fällt, während sie mit den grauen Stöckchen spielen, den glatten Stöckchen, und das Mitleid wird zu Ehrfurcht vor allem, was ich ist und in dem ich anwesend bin, es ist so gewaltig, so gewaltsam, und zugleich so still, es ist außerhalb von mir und in allem, und dann reißt irgendwo eine Saite in einem zitternden Funken außerhalb der Zeit, alles ist wie erstarrt, und zugleich im Nichts, ganz konkret vorhanden und zugleich nichts, ich sehe mich selbst von außen, von oben und von unten, und plötzlich habe ich keinerlei Gefühle mehr, bin blank, neutral, es gibt keine Bewegung, keine Wünsche oder Neigungen irgendeiner Art. Später habe ich gedacht: Und dabei war ich doch nur ein Kind. War es, weil ich ein Kind war?
    Ich bin in dem anderen. In dem, was still und funkelnd sauber ist. In einem unbeweglichen Licht, und zugleich in einem Schatten, der über den Boden huscht, und hinüber in den kleinen Jungen, den ich dort knien sehe, mit diesen (armseligen, so kommt es mir vor) Stöckchen in den Händen, und den Tannenzapfen, die dort liegen und Kühe und noch mehr Kühe darstellen sollen, und Kühe und Tannenzapfen, die Tannenzapfen werden zu Kühen, aber alles ist erstarrt, ganz ohne Bewegung, und ich empfinde nichts, ich habe kein Mitleid mit dem kleinen Jungen, der dort kniet und weint, denn jetzt weint er, wenn auch vollständig lautlos, es gibt nur einige Tränen, ich sehe ein Kind, das in einem Wald kniet, auf einer Lichtung, und wenn ich jetzt daran denke, und das tue ich, dann denke ich an den Blick, den Tom in jener Nacht dem Feuer geliehen hat, der Nacht, als das Holländerhaus brannte. Und ich habe ihn gesehen.
    Aber das ist noch nicht alles. Denn die Stille ist umfassend und total. Es ist schön und gefährlich. Ich will nicht, dass sie mich finden, das weiß ich genau, sie sollen mich nicht finden, aber dann ruft Großmutter, es ist so weit weg, und sie ist vielleicht nicht schlecht, doch, ja, vielleicht ist sie schlecht, aber jetzt verspüre ich schon die Erinnerung wie eine Art Stachel aus Eis, etwas, das in dem ohnehin schon Kühlen, ja Eiskalten schmilzt, eines Nachts wache ich auf und rieche verbrannte Haare: Großmutter ist schlecht. Aber jetzt ist es still, und dieser Ruf kommt wie alles, das mich einfach nichts angehen kann, von außen, es ist Großmutter, die mit Essen droht, mit Kakao, mit Broten mit Kunsthonig und Marmelade, und es ist der Geruch von
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