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Dem eigenen Leben auf der Spur

Dem eigenen Leben auf der Spur

Titel: Dem eigenen Leben auf der Spur
Autoren: Felix Bernhard
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Ausstrahlende Kraft
     
    Die meisten Pilger beschreiben, dass sie noch Monate später jeden Tag den Weg im Geiste entlanggehen und seine Magie spüren. Sie haben Veränderungen und Wunder erfahren und kehren gereinigter und freier zurück. Genau dann, im Alltag, wird es sich zeigen, ob sich die erlangten Einsichten als zutreffend erweisen.
    »Wir kamen wieder und ich fiel in ein Loch«, erzählte mir einmal eine 60-jährige Pilgerin. »Das soll es gewesen sein? Aber ich bemerkte beim Verrichten meiner Hausarbeit, dass ich den spanischen Wind auf der Haut und die harte Erde unter meinen Füßen spürte. Lächelnd saugte ich im Haushalt vor mich hin. Der Weg geht weiter, ich habe das Gefühl, Santiago war nur der Anfang!«
    Wer sich einmal auf den Weg gemacht hat, ist selten davon abzubringen, es noch ein zweites Mal zu wagen. Schwierigen Themen, die man beim Wandern im Gepäck hat, kann man während der vielen Stunden des gleichmäßigen Gehens nicht mehr davonlaufen. Hier und jetzt habe ich die Möglichkeit, meinen Standpunkt zu betrachten, und ebenso den der anderen, vielleicht kann ich dann beide Positionen in Bewegung bringen. Man wird dadurch gelöster.
    Während und nach der Zeit auf dem Jakobsweg verändern sich im eigenen Leben einige Dinge auf fundamentale Weise. Die Kraft, die jeder erfährt, der ein ehrgeiziges Ziel erreicht, strahlt in alle Lebensbereiche aus. Denn eins weiß jeder Pilger, wenn er nach Wochen Santiago erreicht: Nur aus eigener Kraft hätte er es bis dahin nicht geschafft. Unzählige Hände haben ihm zur richtigen Zeit in passender Dosierung geholfen, um ihn wieder auf die Spur zu bringen.
    Vorausgesetzt er wollte es und konnte die Hilfe annehmen. »Maybe he was your angel«, höre ich bei einem Pilgergespräch zwischen zwei jungen Männern, von denen der eine kurz vor der Aufgabe stand. Von einem anderen Pilger hatte er kurze Zeit vorher Kraft und Trost gespendet bekommen.
    An einer Tankstelle suche ich mir auf einer Landkarte die abgelegenere Strecke von zwei Möglichkeiten aus, was einen Umweg von acht Kilometern bedeutet. Dunkle Gewitterwolken türmen sich am Horizont auf, ich lache sie aus.
    Schon am ersten Hang beginne ich freilich an der Richtigkeit meiner Entscheidung zu zweifeln, regelmäßig fahren auch hier Autos mit hoher Geschwindigkeit vorbei, die vermeintlich einsame Landstraße ist der einzige Verbindungspunkt zweier abgelegener Siedlungen. Bald habe ich wieder den besagten Punkt erreicht, an dem eine Umkehr keinen Sinn mehr macht. Nach zwei Stunden versucht mich ein Straßenschild zu trösten: Santiago 13 km. Auf der anderen Route wäre ich schon da.
    Es regnet in Strömen. Mit jedem vorbeifahrenden Auto spritzt Wasser hoch, niemand hält an, um Hilfe anzubieten. Ich verfluche Galicien, die Wanderschaft, die Berge, die Schmerzen, die Mühsal, alles, was mir in den Sinn kommt. Meine Wut lodert wie ein Höllenfeuer, der permanent auf mich niederprasselnde Regen ist dazu das reinste Benzin.
    Im Schneckentempo schiebe ich mich den Berg hinauf. Mal wieder! Kurz vor Erreichen der Bergkuppe gebe ich auf. Ich höre auf, mich aufzulehnen. Und die Wut verschwindet augenblicklich wie ein Dämon, der sich plötzlich von seinem Opfer löst und zu nichts verpufft.
    Einen Augenblick später hält ein Transporter vor mir, ein Spanier steigt aus und rennt auf mich zu: »Quieres ayuda?« Ja, doch, ich brauche Hilfe. Völlig durchnässt steige ich ein, wobei ich bemerke, dass ich einen Handschuh verloren habe. Egal, das Ziel ist erreicht, oder?
    Der Fahrer bietet mir an, mich nach Monte do Gozo, der großen Pilgerherberge unmittelbar vor der Stadtgrenze, zu bringen. Vom Monte do Gozo können Pilger von Osten kommend zum ersten Mal nach der langen Wanderung das Ziel ihrer Anstrengung sehen. Bis zur Kathedrale mit den Gebeinen des heiligen Jakobus sind es von dort aus noch fünf Kilometer. Nun kann sich der Pilger erfrischen, Kleider waschen, und am nächsten Tag kann er sauber die Pilgermesse am Mittag besuchen. Genau das nehme auch ich mir jetzt vor.
    Der Regen will nicht stoppen. Am Monte do Gozo ist es still, kein Autoverkehr, lediglich vereinzelte Stimmen von Pilgern. Ich bin physisch da und mental auch wieder nicht. 200 Meter entfernt steht im Tal ein Schild, das die Stadtgrenze markiert. Vor zwei Jahren bin ich hier mit Lydia durchgerauscht, nur einmal haben wir kurz innegehalten, genau vor diesem Schild, und haben uns erleichtert geküsst. Viele machen hier ein
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