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Dem eigenen Leben auf der Spur

Dem eigenen Leben auf der Spur

Titel: Dem eigenen Leben auf der Spur
Autoren: Felix Bernhard
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Weg auf der zweiten Hälfte der N-525 folgt. Was sind schon ein paar Kilometer Umweg, ich wähne mich fast schon am Ziel, Santiago ist nur noch 100 Kilometer entfernt! Zweimal bereits habe ich den Abzweig für den östlichen Verlauf verpasst und befinde mich wieder im Westen der Stadt, bevor ich umkehre.
    Ausgerechnet auf dem steilsten Abschnitt stoße ich erneut auf römisches Pflaster. Wunderbar, was für eine Begegnung mit der Historie — nur, was mache ich hier? Habe ich nach 30 Tagen und 900 zurückgelegten Kilometern nicht ein sanftes Ende der Reise verdient?
     

    Mein Wanderführer warnte »Radfahrer schieben«...
     
    Man kann es freilich auch von der anderen Seite sehen: Nach all den Erfahrungen müsste ich jetzt eigentlich stark genug sein für alle Unbilden des Wegs. Jeder Kilometer muss gemeistert werden, auch die letzten, es gibt keine Abkürzung, gibt mir meine innere Stimme süffisant zu bedenken.
    Wie aus dem Nichts erscheinen vier fröhliche Radfahrer, die mir sofort helfen. Zwei ziehen vorne, die anderen beiden schieben hinten. Mein Wanderführer hatte explizit vor dieser Stelle gewarnt. Ich müsste es mittlerweile wissen: Er hat immer recht.
    Vor 24 Stunden habe ich Ourense von der anderen Seite aus im Tal vor mir liegen sehen. Einmal runter, einmal hoch. Nennt man das ein Nullsummenspiel? Dafür komme ich mir erstaunlich erschöpft vor.
    Auf alle Fälle ist die Sicht grandios, als ich zurückblicke. Die alte Römerbrücke, die ich gestern mehrmals passierte, hat die Größe eines Streichholzes. Die Kathedrale hebt sich nur leicht von der Altstadt ab. Ringsherum sehe ich bewaldete Berghänge, kein Laut ist zu hören.
    Vor mir liegt ein schmaler Wanderpfad, und links führt eine kleine Straße in eine unbekannte Richtung. Voller wiedergewonnener Wanderlust und hungrig nach einem neuen Naturerlebnis nehme ich den Pfad. Ich sehe Spuren von Mountainbikes und denke an meine Begleiter von gestern Abend. Ob sie wohl schon angekommen sind?
    Nach kurzer Zeit weiß ich: Ich sollte umdrehen und den Umweg über die asphaltierte Straße nehmen, doch ich habe den »point of no return« überschritten. Von jetzt an ist meine Freude über die Schönheit des Wegs gepaart mit der sehr konkreten Angst vor einem schweren Sturz. Dreimal bin ich bereits auf der abschüssigen Strecke auf nassen Steinen ausgerutscht und gefallen, und noch viel öfter war ich nahe daran.
    Aus Angst weiterzugehen, fülle ich mir meine Hosentaschen mit Esskastanien, die den moosigen Weg pflastern. Vermutlich eine typische Übersprunghandlung, bloß um stehen bleiben zu können, aber auch eine Antwort auf meinen Hunger und die Erschöpfung, die seit Stunden meine Weggefährten sind.
    Fast zwei Stunden habe ich für zwei Kilometer benötigt, mit einem dauerhaften Adrenalinspiegel in atemberaubender Höhe. Endlich habe ich wieder festen Boden unter den Rädern, die kleine Straße, die ich vor zwei Stunden wagemutig verlassen hatte. Wieder geht es bergauf und ich habe nicht einmal mehr die Kraft für ein resigniertes: »Ich ergebe mich.«
    Eine SMS. Nur zwei Worte: »Kto eso.« Warum schreibt mir Alexander aus Moskau? Er war vor wenigen Wochen für uns eine Art Bodyguard und Fahrer während der Transaktion in Moskau gewesen. Versehentlich habe ich mein Handy in der Rückentasche des Rollstuhls eingeschaltet gelassen, bemerke ich jetzt. Beim Bewegen muss ich wohl der ersten Person in meinem Adressbuch eine SMS gesendet haben. Zehn Mal. Ich schalte mein Handy aus.
    Ich kann es nicht fassen, nach nur wenigen Metern verschwindet der Pfad wieder in irgendeinem dichten Wald, während das kleine Sträßchen in genau die andere Richtung führt. Egal wie lang der Umweg ist, ich bleibe auf der Straße, wähle Sicherheit und nehme den Umweg in Kauf.
    Plötzlich höre ich auf zu grübeln und verspüre unendliches Glück. Die kleine Straße steigt zwar leicht an, ich gleite jedoch sanft darüber. In diesem Moment kann ich nicht mehr unterscheiden, ob der Weg mich geht, aus mir entspringt oder ich mich auf ihm befinde. Die schmerzenden Hände sind gleichwohl angenehm warm, und die Muskeln fühlen sich ausgeruht an.
    Ich schaue mich um und liebe, was ich sehe, die satten grünen Bäume leuchten, ich spüre Einheit mit allem um mich herum. Alles wirkt wie perfekt organisiert, jedes Objekt steht an seinem richtigen Platz und scheint dies auch zu wissen. Alles um mich herum ist verdichtete Energie. Trennung scheint nur in meinem Kopf zu existieren. Ein Satz von
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