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Dem eigenen Leben auf der Spur

Dem eigenen Leben auf der Spur

Titel: Dem eigenen Leben auf der Spur
Autoren: Felix Bernhard
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Lydia fällt mir ein. In Santiago angekommen wunderte sie sich: »Ich habe das Gefühl, lauter bekannte Gesichter zu sehen. Als ob ich mich selbst ansehen würde.«
     
     

Unbewusste Umwege
     
    Später lese ich auf einem Straßenschild: Santiago 70 km. Es ist das erste Mal, dass ich den Namen des ersehnten Ziels lese, auf das ich seit einem Monat zusteuere und das nun so nahe ist. Die Erfahrung von wenigen Minuten davor klingt noch nach, und obwohl dauernd Autos an mir vorbeibrausen, erinnere ich mich an einen Song von Faithless: »Your thoughts cease, a pleasure grows in your soul.«
     
    Das Quartier in Cea ist laut offizieller Informationsbroschüre der Provinz Galicien mit einem rollstuhlgerechten Zimmer ausgestattet. Einfach nur ankommen und ausruhen. Die Straße in den Ort hinein ist steil. Aus einem Haus stürmt eine rüstige Spanierin auf mich zu und schiebt mich kurzerhand ungefragt hinauf. Ich wehre mich nicht, im Gegenteil, es ist ungefragte Hilfe zur perfekten Zeit in der richtigen Dosierung! Die Wunder des Jakobswegs sind manchmal groß und manchmal klein.
    Der Herbergsbetreuer, Orlando Torres, macht seinem Namen alle Ehre, groß und stämmig steht er wie ein Fels in der Brandung und begrüßt einen mit brachialem Händedruck. Das Schwarze unter den Fingernägeln passt perfekt zu seinem Hut, den er auch in geschlossenen Räumen selten absetzt.
    Er hat den tatsächlich vorhandenen großen rollstuhlgerechten Raum mangels Nachfrage zur Abstellkammer umfunktioniert. Wir lachen beide, als wir das mit Gerümpel voll gestellte Zimmer gemeinsam betrachten. Es bräuchte ziemlich lange, um das ganze Zeug wegzuräumen.
    Ihm ist die Sache sichtlich unangenehm, also wirft er mir ein Bier aus dem Kühlschrank zu und fordert mich auf, mich nach Belieben weiter zu bedienen.
    Wären wir jetzt in einem Film, würde ich anfangen, hysterisch zu lachen, und dann vor Erschöpfung kollabieren. Die Lektion, die ich lerne, ist immer wieder die gleiche. Erwartungen sind der Killer, lautet sie schlicht und einfach.
     

    Die Abstellkammer von Orlando Torres. Ein Mann wie sein Name
     
    Notdürftig bauen wir im Erdgeschoss ein Nachtlager für mich und entrümpeln zumindest den Weg zum Bad. Der Abfluss ist, wie könnte es bei dieser Glückssträhne anders sein, verstopft. Bin ich wirklich der Erste, der hier duscht?
    Abends, die Esskastanien, die ich unterwegs aufgelesen hatte, liegen geröstet vor mir auf dem Teller, kommt eine Gruppe von sieben Pilgern. Sie laden mit einer verblüffenden Selbstverständlichkeit ihr Auto aus. Später frage ich Orlando, der nicht permanent im Haus anwesend ist, sondern als städtischer Beamter das Anwesen extern verwaltet, wie er mit Touristen, die mit dem Auto unterwegs sind, verfährt. »Was soll ich machen? Ich sehe das Auto, aber sie haben Pilgerausweise.«
    Jeder pilgert anders.
     
    Orlando weckt mich morgens mit einem Café con leche und Biskuits aus der benachbarten Bar und erklärt mir die Route. Jetzt fokussiert sich meine gesamte Energie auf das Erreichen des Ziels, auch wenn ich Santiago schon kenne.
    Vor drei Jahren habe ich es, von Pamplona kommend, mit Lydia zusammen nach 24 Tagen erreicht. Die damaligen 750 Kilometer empfand ich als deutlich mühsamer. Die Ausrüstung war noch nicht erprobt, und jedes einzelne Teil gab sukzessive den Geist auf und musste repariert oder ersetzt werden. Zu der Strapaze des Pilgerns kam die permanente Unsicherheit, was wohl als Nächstes kaputtgeht, eine Speiche, ein Bolzen am Rollstuhl, die Reisetasche? Einmal musste sogar ein Ersatz-Blasensteuergerät aus Deutschland eingeflogen werden, meins war defekt und zwang uns, die Etappen anders zu planen.
    Santiago also, das alte und neue Ziel, da will ich hin! Und dann weiter zu Roberto, abschließen, wozu mir vor drei Jahren die Kraft und der Wille fehlten. Über den druidischen Pilgerweg werde ich nach Finisterre an den westlichsten Punkt Spaniens weitermarschieren. Wörtlich übersetzt bedeutet Finisterre »Ende der Welt«, auch ich habe es lange Zeit fälschlicherweise für das westlichste Ende von Europa gehalten.
    Mit dem ersehnten Ziel vor Augen, zieht sich jeder Anstieg besonders lang. Eine Geduldsprobe, denn in Gedanken bin ich schon da und diese Meter sind einfach nur lästig. Dabei ist es das Ende, das ganz besonders in Erinnerung bleibt, es ist daher wichtig, wie ich mich von dem Camino verabschiede.
     
    Seit Beginn der Reise suchen meine Augen den Wegrand immer nach grasigen Stellen ab, in
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