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Dein Name

Titel: Dein Name
Autoren: Navid Kermani
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der jüngere Kollege auch dieses Zeugnis ablegen, wenn selbst einer wie Nikki Sudden, einer wie Akbar Mohammadi oder Raul Hilberg bedacht wurde, doch will der jüngere Kollege mit den letzten … Moment … 11.752 Anschlägen nicht ausgerechnet an Osama bin Laden denken und das letzte Kapitel nicht nach einem Mörder benennen, der sich auf Gott berief: Meine Geschichte endet mit Mohammad Mehriar, wendet sich der jüngere Kollege zum Himmel.
    Da 11.519 Anschläge mehr als genug wären für ein weiteres Kapitel, erwähnt er den Brief, den Großvater Anfang der achtziger Jahre nach Amerika sandte: Er bete täglich zu sterben, bevor ihm die Islamische Republik auch noch Gott raubt. Den Brief suchte der Cousin in New York vergeblich. Falls er ihn doch noch findet, wird er ihn scannen und rechtzeitig für den Roman mailen, den ich schreibe.
    Â»Wie du die Kreatürlichkeit betonst und nicht das heroische, den eigenen Tod, das Grauen vor diesem schlechthin ›antiutopischen Faktum‹, das ist wichtig«, mailt am Donnerstag, dem 19. Mai 2011, um 16:20 Uhr mitteleuropäischer Zeit der Freund aus der Kneipe, der mit auf dem Konzert in Lyon war, »und auch solche Notizen wie etwa über Hondrich, den ich aus Frankfurt kannte, als er noch jung war, sind schön und gräßlich. Aber, wenn du mich fragst, die Todessehnsucht, die du nur im Zusammenhang mit Hölderlins ›Liebestod‹ angedeutet hast [aber doch auch mit Jean Pauls Christus: Ach wenn jedes Ich sein eigner Vater und Schöpfer ist, warum kann es nicht auch sein eigner Würgengel sein?], hätte vielleicht stärker beleuchtet werden können. Denn es ist nicht nur das Sterben etwas Fürchterliches, sondern auch das Leben. Und insofern ist der Tod immer auch etwas, was man wünschen kann. Die exzentrische Bahn, die Hölderlin in irgendeiner Hyperionvorrede beschreibt, die unser Leben ausmacht, verläuft zwischen den Polen Ich (Ich bin alles und die Welt ist Nichts) und Welt (Die Welt ist alles und ich bin nichts). Das ist zwar abstrakt, aber auf Erfahrung beziehbar. Nach dem Satz aus der metrischen Fassung, den du zitierst, ›Am Tage da die schöne Welt für uns begann / Begann für uns die Dürftigkeit des Lebens‹, beschreibt er, dass unser Leben zum einen nichts anderes ist als zu versuchen diese Dürftigkeit wieder wegzukriegen und die ursprüngliche Einheit den ›ungetrübten Äther‹ wieder zu finden und paradoxerweise gleichzeitig, die Dürftigkeit zu erhalten, weil ohne sie (ohne Widerstand von aussen) kein Leben mit Bewußtsein (Fühlen und Wissen) möglich ist. / Die Sehnsucht nach Problemlosigkeit nach einem Ende der Dürftigkeit, dass alles gut wird treibt uns an, obwohl wir ahnen, ja wissen, dass wirklich alle Probleme erst im Tod weg sind. Und diese Ahnung bringt uns im Gegenzug zu unsern permanenten Befreiungs- und Problembeseitigungsversuchen, zu der Einsicht, dass ›in uns auch wieder etwas, das die Fesseln (die Dürftigkeit) gern behält‹ ist. Die von Wagner ästhetisch kompensierte Sehnsucht nach dem Nichts legt auch schon bei Hölderlin einen Link zu Buddha. / Mir fällt da noch der Prinz von Homburg ein, der in seiner vermeintlich letzten Stunde ans Jenseits denkt: ›Zwar eine Sonne scheint dort auch, so heißt es, und über buntere Felder noch als hier. Nur schade, dass das Auge modert, das die Herrlichkeit erblicken soll.‹ / Hier irgendwo liegt der zentrale Selbstwiderspruch. Unsere Aktivitäten gehen in Richtung Einheit, Harmonie, Widerspruchslosigkeit; wenn wir das wirklich erreichen, sind wir aber tot. Das ist allgemeinplätzig die Tragik des Lebens. Hier ist jedenfalls ein nur im Tod sich auflösender Selbstwiderspruch in unserm Dasein. Und über diese Ambivalenz (die vielleicht vor Hondrichs Zeiten eine Selbstverständlichkeit war), die Hölderlin kannte und wir von Neil Young, hätte ich gern mehr von dir gelesen. Die ›Sehnsucht ins Ungebundene‹ kann ich nur als Todessehnsucht auffassen, der Hölderlin dann immer sofort eine Notwendigkeit entgegensetzt: ›Und vieles auf den Schultern wie eine Last von Scheitern ist zu behalten und Not die Treue.‹ Natürlich ist das ein theoretischer Hymnus, aber man kann ihn auf das Ehedilemma konkret und untrivial beziehen. / Mir fällt noch ein Spruch ein, diesmal nicht aus der Kneipe, sondern der Theaterkantine: Alles hat
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