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Dein Name

Titel: Dein Name
Autoren: Navid Kermani
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immer ein happy end, und wenn es einmal kein happy end hat, dann ist es eben noch nicht zu Ende. / Ich füge die Stelle bei, die mir konstitutionstheoretisch und poetisch so bedeutend scheint, die Schiller, ich schätze aus Neid, gestrichen haben wollte, ich kann mir kaum vorstellen, dass wir da nicht schon mal drüber geredet haben, natürlich ist das abstrakt, aber ich glaube es ist in jedem Satz auf ›tägliche Verrichtungen‹ beziehbar (vielleicht eine nichts präjudizierende dramaturgische Weltformel, naja): Jetzt muß ich aber schlafen, danke dass ich die Fahnen lesen durfte! / Hölderlin Hyperion (aus der Metrischen Fassung Jena 1795) / ›Am Tage, da die schöne Welt für uns begann, / Begann für uns die Dürftigkeit / des Lebens u. wir tauschten das Bewußtsein / für unsere Reinigkeit und Freiheit ein. – / Der reine leidensfreie Geist befaßt / Sich mit dem Stoffe nicht, ist aber auch / sich keines Dings u. seiner nicht bewußt. / Für ihn ist keine Welt, denn außer ihm / Ist nichts. – Doch, was ich sag‹, ist nur Gedanke. – / Nun fühlen wir die Schranken unsers Wesens / Und die gehemmte Kraft sträubt ungeduldig / Sich gegen ihre Fesseln, und es sehnt der Geist / Zum ungetrübten Aether sich zurük / Doch ist in uns auch wieder etwas, das / Die Fesseln gern behält, denn würd in uns / Das Göttliche von keinem Widerstande / Beschränkt – wir fühlten uns und andre nicht. / Sich aber nicht zu fühlen, ist der Tod, / Von nichts zu wissen, und vernichtet seyn / Ist Eins für uns. – Wie sollten wir den Trieb / Unendlich fortzuschreiten, uns zu läutern, / Uns zu veredlen, zu befrein, verläugnen? / Das wäre thierisch, Doch wir sollten auch / Des Triebs, beschränkt zu werden, zu empfangen, / Nicht stolz uns überheben, denn es wäre / Nicht menschlich, und wir tödteten uns selbst. / Den Widerstreit der Triebe, deren keiner / Entbehrlich ist, vereinigt die Liebe.‹«
    Â»Wir würden alle den Tod schöner finden, wenn er unsere Hülle nur entseelte, nicht zerlegte«, fand auch Jean Paul, der den Vorgang des Sterbens häufiger und realistischer als je ein deutscher Dichter schilderte, um zwei Seiten später zu beharren: »Aber der Tod wirft den tauben Körper und die dicke Erde weit von uns, und wir stehen frei und hell in der lichten Welt unsers Herzens und unsers Glauben und unserer Liebe.«
    Am Mittwoch, dem 25. Mai 2011, hat er um 18:15 Uhr Mountain Standard Time endlich die Allmacht mit deutscher Tastatur und zwölfstündigem Akku in Händen, aber nur noch 5531 Anschläge zur Verfügung.
    Der Vater habe Valium verabreicht, als Großvater am 1. März 1985 aufschrie, erfährt der Sohn unterm Headset, und die Mutter das Nachthemd aufgeknöpft, das von einer auf die andere Sekunde von Schweiß getränkt war. Die ältere der beiden Tanten habe in ihrer Hilflosigkeit Großvater gefragt, ob sie ihn massieren solle. Als er nickte, habe sie seinen Oberkörper aufgerichtet und seine Schultern massiert. Von einer weiteren Sekunde auf die nächste hätten sie alle drei gesehen, also die Mutter, der Vater und die Tante, die um das Bett standen, wie die Zehen weiß wurden, dann die Füße. Alle drei hätten sie sich angeschaut und dann wieder ungläubig auf die Beine, an denen das Weiß hochgekrochen sei, als würde Großvater in Milch getaucht, horizontal, auch der Bauch weiß und gleichzeitig die Hände, sein Körper habe gezittert und sie alle drei auch, die Brust und gleichzeitig die Oberarme, danach den Hals hoch zum Gesicht und dann, das glaubst du nicht, Navid, das wird dir kein Leser glauben, aber frag deinen Vater, der während der ganzen Zeit den Koran rezitierte, und fährt zwischen zwei Heulkrämpfen fort, daß Großvater, im ganzen Gesicht weiß geworden wie die strahlende Sonne, sie alle drei angelächelt habe, also die Mutter, den Vater und die Tante. Sie hätten mit eigenen Augen gesehen, wie der Geist den Körper verließ, während die Pupillen sich einige Male verdrehten – Papas Pupillen, schluchzt die Mutter, jede eine Himmelskugel –, bevor sie starr wurden. Die Tante habe Großvater zurück aufs Kissen gelegt und seine Lider geschlossen. So ist das geschehen, bestätigt der Vater, der den Hörer in die Hand nimmt und sich das Leben auch seiner Vorfahren beschrieben
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