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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
Autoren: Javier Marías
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weggelassen hatte, und der Kommodore Mountbatten, der ursprünglich Battenberg war, allesamt künstliche Briten, nicht einmal Tolkien rettete sich davor. (Und wie mein Kollege Rendel, auch er ein österreichischer Engländer.) Frau Berry war wahrscheinlich mit ihren Verrichtungen fertig und vertrieb sich die Zeit, bis es soweit war, uns zum Mittagessen zu rufen. Sie spielte, und Wheeler spielte; sie voll Energie, ihn hatte ich selten gesehen oder gehört, ich erinnerte mich an eine Situation, in der er mich mit einer Hymne bekannt machen wollte, die den vage spanischen Titel Lillabullero oder Lilliburlero oder so ähnlich trug, das Klavier stand nicht im Wohnzimmer, sondern im Oberstock, in einem sonst leeren Zimmer, man konnte in ihm nichts anderes tun, als sich vor das Instrument zu setzen. Es mochte an der fröhlichen Musik liegen, des Kontrastes wegen, oder an seinen eigenen klagenden Sätzen, aber Wheeler wirkte plötzlich sehr müde, er hob eine Hand an die Stirn und ließ diese mit ihrem ganzen Gewicht hineinfallen, wobei er sie dem Ellbogen anvertraute, den er auf den Tisch gestützt hatte, über den das Segeltuch mit seinen übergroßen Schößen gebreitet war. ›So machen wir es seit Jahrhunderten‹, dachte ich, während ich darauf wartete, daß er fortfuhr oder das Gespräch beendete, ich fürchtete, daß er sich dazu entschließen könnte, er war sich seiner langen Tiraden allzu bewußt geworden, ich sah, wie er die Augen schloß, als brannten sie ihm, obwohl seine Finger auf der Stirn sie halb verbargen. ›So machen wir es seit Jahrhunderten, und so weicht nichts und nichts endet jemals, alles wird angesteckt, nichts läßt uns los. Und all das legt sich wie Schnee auf die Schultern, glatt und sanft, nur, daß es Schnee ist, der in der Zeit reist und jenseits unserer selbst und der vielleicht niemals aufhört.‹
    »Andreu Nin hat es verloren, zum Beispiel«, sagte ich schließlich, in meinem Kopf trieben sich noch immer die spontanen Studien meiner so ausgedehnten Nacht herum. »Andrés Nin«, beharrte ich, als ich Wheelers Verwirrung bemerkte, ich bemerkte sie, obwohl er noch nicht die Haltung änderte, er saß noch immer reglos und wie entkräftet da. »Er hat nicht geredet, nicht geantwortet, er gab keine Namen preis noch sagte er sonst etwas. Nin, während sie ihn folterten. Es kostete ihn das Leben, obwohl sie es ihm am Ende sicher in jedem Fall genommen hätten.« Aber Wheeler verstand noch immer nicht, oder er wollte keine Nebenwege mehr:
    »Was?« brachte er hervor, und ich sah, daß er die Augen öffnete, ein Funken Perplexheit, als hielte er mich für gestört, was soll denn das. Sein Geist war zu weit entfernt von Madrid und Barcelona im Frühjahr 37, es konnte sein, daß das, was er in Spanien erlebt hatte, was immer es war, ihm geringfügig erschien nach dem, was später kam, vom Spätsommer 39 bis zum Frühjahr 45, oder in seinem Fall auch bis zu einem späteren Zeitpunkt. Ich versuchte es also mit der Rückkehr zu dem Land, in dem wir uns befanden, nach Oxford, nach London (manchmal vergaß ich, daß er um einiges älter als achtzig war; oder ich vergaß es vielmehr ständig und erinnerte mich nur selten daran):
    »Dann hatte sie also die gegenteilige Wirkung, die Kampagne«, sagte ich.
    Er nahm langsam die Hand von seinem Gesicht, und ich sah es wieder frisch, es war bewundernswert, wie er sich erholte und wieder faßte nach seinen Tiefpunkten oder müden oder sprachgestörten Momenten, es war gewöhnlich das Interesse – sein umtriebiger Kopf oder der heftige Wunsch, etwas zu sagen oder zu hören, immer noch etwas mehr –, das ihn wieder lebendig machte. Oder auch der Humor, eine Ironie, ein Spaß, ein Scherz.
    »Das trifft es nicht ganz«, antwortete er mit leicht zugekniffenen Augen, als brannten sie ihm noch immer. »Es wäre eine grobe Vereinfachung und außerdem ungerecht, es so zu sehen. Die Leute waren ja nicht böswillig, das war es nicht, nicht einmal die indiskretesten, die größten Prahlhänse und Maulhelden.« Und die letzten Wörter entschlüpften ihm auf spanisch, bisweilen merkte man ihm an, daß er mein Land seit langem nicht mehr betreten hatte, diese Begriffe hört man hier nicht mehr, wie auch andere in diesem Stil, aus offenkundigen Gründen: wenn in einer Gesellschaft die Schwachköpfe, die Angeber, die Maulhelden und die Witzfiguren dominieren, dann hat es keinen Sinn mehr, daß irgend jemand irgend jemanden so bezeichnet. »Und es gab auch welche, die
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