Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
Autoren: Javier Marías
Vom Netzwerk:
all das zu Gemüte zu führen, was wir ihm über Heinrich den Seefahrer vorsetzen, stell dir vor, was für ein Irrsinn, mein letztes Buch über ihn hat fast fünfhundert Seiten, eine Unhöflichkeit, eine Anmaßung. Apropos, hast du es schon gelesen?«
    »Noch nicht, Peter, bitte entschuldigen Sie mich, es tut mir in der Seele leid. Es kostet mich in der letzten Zeit große Mühe, mich aufs Lesen zu konzentrieren«, antwortete ich, und das war keine Lüge. »Aber wenn ich mich daranmache, keine Sorge, dann werde ich es von Anfang bis Ende lesen und die ganze Zeit den Atem anhalten und kaum Pausen machen, da bin ich sicher«, fügte ich lächelnd und mit einer Spur liebevoller Ironie hinzu, und auch er lächelte mit einem kurzen Blick, seine Augen waren jünger als seine Gestalt insgesamt. Und dann fragte ich ihn: »Was war das für eine Versuchung? Wie sie die Kampagne gegen den careless talk mit sich brachte? Davon haben Sie gesprochen, nicht?, oder Sie wollten es tun.«
    »Ach ja. Recht so, du folgst meinen Anweisungen und hältst mich im Zaum.« Und diese Antwort von ihm enthielt ebenfalls einen Anflug von Spott. »Am Anfang hat es niemand gemerkt, aber die Versuchung war sehr einfach und im Grunde überhaupt nicht überraschend: Also, dieser Bevölkerung, die normalerweise nicht viel Unentbehrliches oder Begehrenswertes zu erzählen hat, teilte man plötzlich mit, daß ihre Sprache, ihre Gespräche und ihre natürliche Geschwätzigkeit eine Gefahr darstellen konnten, und man forderte sie dringend auf, mit Vorsicht zu sprechen und sich zu überlegen, wo, wann und vor wem sie es tat; man warnte sie davor, daß so gut wie jeder ein Nazi-Spion oder ein gekaufter Spitzel sein konnte, der auf ihre Worte lauerte, wie auf der Zeichnung mit den zwei Hausfrauen, die in der Untergrundbahn fahren, oder auf der mit den Dartspielern. Und das war, das mußt du dir klarmachen, als würde man den Bürgern sagen: In den meisten Fällen wissen Sie nicht, welche es sind, aber von Ihren Lippen können wichtige, entscheidende Dinge kommen, die daher besser niemals, unter keinen Umständen, ausgesprochen werden dürfen. Sie wissen nicht, was, aber dieses ganze Gewäsch, das Ihre Münder tagtäglich von sich geben, kann etwas Wertvolles enthalten, etwas ungeheuer Wertvolles für den Feind. Im Gegensatz zu sonst, das heißt zum allgemeinen Desinteresse der meisten an dem, was Sie ihnen unermüdlich erzählen und erklären, gibt es jetzt wahrscheinlich unter uns Ohren, die höchst interessiert daran sind, Ihnen alle Aufmerksamkeit der Welt zu schenken, ja sogar, Ihnen die Zunge zu lösen. Besser gesagt, es gibt sie sicher: Zahlreiche Deutsche sind in der letzten Zeit mit dem Fallschirm über britischem Gebiet abgesprungen, und sie alle sind bestens präpariert, speziell trainiert, um uns zu täuschen, sie sprechen unsere Sprache, als wären sie in Manchester, Cardiff oder Edinburgh geboren, und kennen unsere Sitten, weil nicht wenige von ihnen in der Vergangenheit bereits hier gelebt haben oder halbe Engländer sind, vom Vater oder von der Mutter her, obwohl sie sich heute für die schlimmere ihrer beiden Abstammungen entschieden haben. Sie landen oder gehen an Land ohne Skrupel, mit Waffen versehen und mit falschen, perfekt nachgemachten Ausweispapieren, und wenn nicht, dann bekommen sie die rasch von ihren Komplizen hier auf den Inseln, von denen viele unsere Landsleute sind, so britisch wie unsere Großeltern, und auch diese Verräter hängen an Ihren Lippen, um etwas aufzugabeln und an ihre Vorgesetzten, die Schlächter, weiterzugeben, um zu sehen, ob uns etwas herausrutscht. Seien Sie also alle auf der Hut: Von Ihrem verantwortungslosen Schwatzen oder Ihrem loyalen Schweigen kann das Schicksal unserer Luftwaffe, unserer Flotte, unserer Heerestruppen, unserer Gefangenen und unserer Spione abhängen. Vielleicht nicht in Ihrer Hand, wohl aber auf Ihrer Zunge liegt der Ausgang dieses Krieges, der uns schon soviel Blut, Mühsal, Schweiß und Tränen gekostet hat.« (Wheeler zitierte in der richtigen Reihenfolge, ohne das Wort › toil ‹ zu vergessen, das immer ausgelassen wird.) »Und es wäre unverzeihlich, wenn wir ihn am Ende wegen eines Ausrutschers von Ihnen, wegen einer vermeidbaren Unvorsichtigkeit verlieren würden, nur weil irgend jemand von uns unfähig gewesen wäre, sich auf die Zunge zu beißen und den Mund zu halten. So sah man die Dinge, das Land voller Naziagenten mit gespitzten Ohren, die nichts anderes taten, als
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher