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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
Autoren: Javier Marías
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die Schriftsteller ihren Lesern und sogar die Sänger ihren jugendlichen Fans, die außerdem als größten Tribut ihren Refrain mitsingen. Auch die Patienten ihren Psychiatern, nur daß hier die Art der Beziehung aufschlußreich ist, es handelt sich um eine klare Transaktion: es kassiert, wer zuhört, es zahlt, wer spricht. Wer quatscht, zieht den Beutel, wer sich ausläßt, blecht.« (Und diese vier letzten Verben waren ebenfalls wieder spanisch. Ich dachte an eine Freundin in Madrid, Dr. García Mallo, eine sehr kluge Psychoanalytikerin: Ich würde ihr empfehlen, ohne das geringste schlechte Gewissen ihr Honorar zu erhöhen.) »Es ist eine exemplarische Beziehung, sie wäre im Grunde für alle Gelegenheiten geeignet. Denn von denen, die bereitwillig zuhören, gibt es niemals viele, ihre Zahl ist nicht allzu groß, vor allem weil es unendlich mehr von denen gibt, die im anderen Lager sitzen, das heißt, reden und daher gehört werden wollen. In Wirklichkeit, wenn du darauf achtest, gibt es einen ständigen, universellen Streit darum, wer das Wort hat: An jedem privaten oder öffentlichen Ort, an dem viele Menschen zusammenkommen, gibt es Dutzende, wenn nicht Hunderte von haltlosen Stimmen, die darum kämpfen, sich durchzusetzen oder sich Gehör zu verschaffen, und das desideratum einer jeden bestünde darin, sich über alle anderen zu erheben und sie zum Schweigen zu bringen: sie versuchen es schon, im Rahmen des Erträglichen. Egal, ob es eine Straße oder ein Markt oder das Parlament ist, der einzige Unterschied besteht darin, daß in letzterem Redezeiten festgesetzt und die Wartenden aufgefordert sind, so zu tun, als würden sie zuhören; egal, ob es ein Pub oder eine Teegesellschaft in einem aristokratischen Haus ist, es variieren nur Intensität und Tempus, beim Tee geht man behutsam vor, man verstellt sich eine Weile, bis man sich schließlich traut und sich genau wie in der Kneipe verbreitet, wenn auch mit leiserer Stimme. Und es genügen vier Personen um einen Tisch herum, damit zumindest zwei darum rivalisieren, das Wort zu führen. Ich habe gut daran getan, Professor zu werden: Jahrelang habe ich kampflos das enorme Privileg genossen, von niemandem unterbrochen zu werden, oder nur mit meinem vorherigen Einverständnis. Und ich genieße es noch immer in meinen Büchern und Artikeln. Genau das ist die Illusion von uns allen, die wir schreiben: zu glauben, daß man unsere Bücher aufschlägt und von vorne bis hinten mit angehaltenem Atem und wenigen Pausen durchliest. Sie ist und war es bei allen, du kannst dir sicher sein, ich weiß es aus fremder und auch aus eigener Erfahrung, die fehlt dir, soviel ich weiß, du kannst dir nicht vorstellen, wie gut du daran getan hast, daß du nicht der Versuchung des Schreibens erlegen bist. Es ist die illusorische Vorstellung all dieser Romanciers, die ihre zahlreichen, dicken Wälzer voller maßloser Abenteuer und Reflexionen herausbringen, wie euer Cervantes, wie Balzac, Tolstoi, Proust oder dieser langweilige Alexandria-Vierer, der so Mode war, oder unser Tolkien aus Oxford (er war wirklich Südafrikaner von Geburt, weißt du?), wie oft bin ich ihm im Merton College begegnet oder habe gesehen, wie er am späten Nachmittag mit Clive Lewis etwas im The Eagle&Child trank, ohne daß einer von uns hätte ahnen können, was mit seinen drei damals so exzentrischen Romanfolgen passieren würde, er noch weniger als wir, seine sehr skeptischen Kollegen; und es war die Vorstellung all dieser wortgewaltigen Dichter, die so viel in jede ihrer trügerischen, so kurz daherkommenden Zeilen hineinlegen und konzentrieren, wie Rilke und Eliot, oder davor Whitman und Milton und davor euer großer Manrique; und all dieser Dramatiker, die den Anspruch erheben, die Zuschauer vier oder mehr Stunden auf ihre Sitze zu bannen, wie Shakespeare selbst mit seinem Hamlet oder Heinrich IV .: aber natürlich standen seinerzeit viele Zuschauer und kamen und gingen wie selbstverständlich und sooft sie Lust dazu hatten; auch all dieser Chronisten und Tagebuchverfasser und Memorienschreiber wie Saint-Simon, Casanova, euer Inca Garcilaso, euer Bernal Díaz oder unser illustrer Pepys, die niemals müde werden, die Blätter wie manisch mit Tinte zu bedecken; und die all dieser Essayisten, angefangen beim unvergleichlichen Montaigne oder bei mir selbst (mit allen himmelweiten Unterschieden, ich bitte dich), die wir uns beim Schreiben naiv vorstellen, daß jemand die wundersame Geduld aufbringen wird, sich
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