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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
Autoren: Javier Marías
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verstohlen zu lauschen« (und hier benutzte Wheeler das schwer übersetzbare englische Verb › to eavesdrop ‹), »nicht nur in London und in den großen Städten, sondern auch in den kleinen und in den Dörfern und natürlich an den Küsten und sogar auf den Feldern. Die wenigen Deutschen und Österreicher, die Nazigegner waren und schon seit Jahren hier im Exil lebten, seit Hitlers Machtergreifung, hatten es nicht leicht, ich wußte es von Wittgenstein, zum Beispiel, der sein halbes Leben in Cambridge gelebt hatte, oder ich kannte den großen Schauspieler Anton Walbrook und den Schriftsteller Pressburger und die großartigen Kunstgelehrten vom Warburg-Institut, Wind, Wittkower, Gombrich, Saxl und auch Pevsner, nicht wenige ihrer langjährigen Nachbarn begannen ihnen plötzlich mit Argwohn zu begegnen, die Armen, sie waren britische Staatsbürger und wahrscheinlich mehr als jeder andere an der Niederlage der Nazis interessiert. Damals wurde hier zum ersten Mal ein offizieller Personalausweis eingeführt, entgegen unserer Tradition und unserer Neigung, um den Deutschen, die uns unterwanderten, die Sache etwas schwerer zu machen. Aber die Leute verloren ihn, da sie es nicht gewohnt waren, ihn bei sich zu tragen, und die Aversion gegen den Ausweis war so groß, daß er später, etwa 1951 oder 1952, abgeschafft wurde, als Reaktion auf die Unzufriedenheit, die durch seinen obligatorischen Charakter bedingt war. Tupra hat mir gesagt, daß man jetzt in höheren Sphären davon spricht, abermals etwas Ähnliches einzuführen, zusammen mit den übrigen inquisitorischen Maßnahmen dieser mittelmäßigen Politiker, die uns mit totalitärer Gesinnung regieren und denen der Angriff auf das World Trade Center fast völlige Handlungsfreiheit gibt. Ich hoffe, sie werden sich nicht durchsetzen. Sosehr sie sich auch bemühen, aber wir befinden uns auch jetzt nicht in einem richtigen Krieg, nicht in einem mit ständiger Ungewißheit und ständigem Schmerz. Auch wenn von uns aktiven Teilnehmern am Zweiten Weltkrieg nicht mehr viele am Leben sind, ist es doch für uns eine Beleidigung und ein gewaltiger Hohn, was diese so kleinmütigen wie autoritären Dummköpfe im Namen der Sicherheit, o prähistorischer Vorwand, zu tun und durchzusetzen planen. Wir haben nicht gegen einen Gegner gekämpft, der das Leben der Menschen in seinen sämtlichen Aspekten kontrollieren wollte, damit jetzt unsere Enkel kommen und die irren Phantasien der Feinde, die wir längst besiegt haben, mit List und Tücke, aber perfekt in die Tat umsetzen. Na ja, ich weiß nicht, wie auch immer, ich werde es jedenfalls zum Glück nicht lange erleben.« Und Wheeler schaute wieder auf den Rasen, während er diese überflüssigen Worte murmelte, oder vielleicht auf die paar Kippen, die ich auf den Boden geworfen und mit meinem Schuh ausgetreten hatte. Dieses Mal fand er den Weg allein wieder, sofort: »Was war die Folge davon, daß man den Bürgern damals all das gesagt hat? Sie befanden sich in einer seltsamen, vielleicht sogar paradoxen Situation: Sie konnten wertvolle Information besitzen, aber die meisten wußten nicht, ob es wirklich so war und wenn, welche zum Teufel es war; auch wußten sie nicht, für wen in ihrer Umgebung sie es sein konnte, für welche Verwandten oder Bekannten oder ob überhaupt für einen, was zur Folge hatte, daß sie niemanden als potentielle Gefahr ausschließen konnten; und schließlich wußten sie: wenn diese beiden im übrigen niemals nachprüfbaren Faktoren oder Elemente gegeben waren – der unbewußte Besitz einer wertvollen Information und die Nähe eines getarnten Feindes, der sie ihnen entreißen oder durch Zufall von ihnen aufschnappen konnte –« (und hier erschien ein weiteres Verb derselben Gattung ohne genaues Äquivalent in meiner Sprache, › to overhear ‹), »dann konnte diese Verbindung eine ungeheure Tragweite besitzen und Ursache von Katastrophen sein. Die Vorstellung, daß das, was man sagt, redet, kommentiert, erwähnt oder erzählt, wichtig sein und schaden und von anderen begehrt werden kann, sei es auch vom Teufel und seinen Heerscharen, ist unwiderstehlich für die Mehrheit; und so verbanden sich bei den meisten die beiden gegensätzlichen, widersprüchlichen, unvereinbaren Neigungen und existierten nebeneinander: die Neigung, stets alles zu verschweigen, selbst das Belangloseste und Harmloseste, um jede Bedrohung und auch jedes Schuldgefühl abzuwehren oder das Gefühl, irgendeinen haarsträubenden Fehler
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