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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
Autoren: Javier Marías
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verschwiegen waren wie ein Grab. Ein lebendes, jetzt meine ich nicht die Toten: gewissenhafte, gutwillige, unbeirrbare Leute mit starkem Pflichtgefühl, die ohne Zögern ihre Lippen versiegelten, auch wenn niemand etwas von ihrer gehorsamen Haltung erfuhr oder sie dazu beglückwünschte. Es waren sehr viele, aber vielleicht nicht so viele, es war eine schwer zu befolgende, fast aberwitzige Anweisung. Redet nicht, kein Murmeln, kein Flüstern, nichts, denn man kann es euch von den Lippen ablesen, also vergeßt eure Sprache.« (›Schweig und rette dich so‹, ging mir durch den Kopf, und auch, eine Sekunde lang, ob mein Onkel Alfonso gesprochen oder geschwiegen haben mochte, wir würden es nie erfahren.) »Wenn ich sage, daß die Kampagne insgesamt scheiterte, dann nicht, weil die Leute nicht bereit gewesen wären, sie zu befolgen, sie waren es größtenteils; und sie hatte ihren Nutzen, sie diente dazu, ein allgemeines Bewußtsein dafür zu schaffen, daß wir nicht allein waren, sondern begleitet, wie Schauspieler im Theater; und daß wir außerhalb der Scheinwerfer, im Halbdunkel, im Dunkel oder in der Finsternis, ein zahlreiches, höchst aufmerksames Publikum mit gutem Gedächtnis hatten, wie unsichtbar oder unkenntlich und verstreut auch immer, bestehend aus Spionen, aus heimlichen Lauschern« (hier war es abermals ein schlecht zu übersetzendes Wort, › eavesdropper ‹), »aus Angehörigen der fünften Kolonne, Spitzeln und professionellen Entzifferern; daß jedes Wort, das sie von uns aufschnappten, tödlich für unsere Sache sein konnte, so wie diejenigen, die wir dem Feind rauben konnten, lebenswichtig waren. Aber gleichzeitig erhöhte diese Kampagne – und daher ihr obligates Scheitern trotz ihrer unstrittigen Vorzüge und Erfolge – in unvermeidlicher und unglaublicher Weise die Zahl der verbal Haltlosen, der extremen Großmäuler. Und so wie viele, die bislang unbefangen und sorglos geredet hatten, lernten, es sich zweimal zu überlegen, wie eine der Zeichnungen empfahl, waren jetzt viele, die bislang stumm gewesen waren oder zumindest einsilbig, gehemmt oder schweigsam, nicht zum Vergnügen oder aus Vorsicht, sondern mit der Vorstellung, daß das, was sie erzählen und sagen konnten, belanglos wäre, niemanden interessieren könnte und keine Folgen hätte, außerstande, der Versuchung zu widerstehen, sich gefährlich und tadelnswert zu fühlen, als Bedrohung und deshalb der Aufmerksamkeit wert und gewissermaßen als Protagonist ein jeder in seinem Bereich, obwohl dieser Protagonismus meistens nur etwas Eingebildetes, Irreales, Illusorisches, Fiktives, eine Wunschvorstellung war. Aber sie begannen wie die Elstern zu schwatzen, das stimmt in jedem Fall; sich wichtig zu tun und die Wissenden zu spielen, und wer das vorgibt, versucht am Ende auch, es zu sein, im Rahmen seiner Möglichkeiten, ein Spion mehr, gratis und zusätzlich. Und ob es ihm nun gelingt oder nicht, wahr ist auch, daß jeder immer etwas weiß, selbst wenn er nicht weiß, daß er weiß, und sich nicht wirklich vorstellt, daß er in der Tat etwas weiß. Doch sogar der scheueste, einsamste Mann, der im Verlauf seines ganzen Tages nur seiner Vermieterin etwas zuknurrt, wenn er ihr überhaupt begegnet, und sogar die unvernünftigste oder dumpfeste und unverständigste Frau und sogar das am wenigsten neugierige oder kontakfreudige, das am tiefsten in sich versponnene Kind des Königreichs, sie alle wissen immer etwas, denn die Worte, die unersättliche Ansteckung, verstreuen sich, ohne der Hilfe zu bedürfen und über jedes Hindernis hinweg, und sie verbreiten sich mehr und dringen tiefer ein, sehr viel mehr, unsagbar mehr, als sich jemals ein einzelner vorstellen kann, das heiß, niemand. Und es genügen ein detektivisches, scharfsinniges Gehör und ein assoziationsfähiger, verderblicher Geist, um dieses Etwas zu unterscheiden und auszunutzen, um es herauszufiltern. Das wußten sie in der Tat, die Verantwortlichen der Kampagne, daß wir alle von einigen Wirkungen und von einigen Ursachen wissen, auch wenn sie zusammenhanglos sind. Was für eine wertvolle Information, ich sage es noch einmal, konnten im Prinzip die beiden Frauen in der Untergrundbahn oder dieser so schlichte und gewöhnliche Mann mit der Mütze haben, der sagt: Was ich weiß … behalte ich für mich ? Und doch wandten sie sich auch an sie, an ihresgleichen, versuchten sie auch sie zu überzeugen, daß sie ihre Sprache vergaßen. Ein vergebliches Unterfangen, alle zu
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