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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
Autoren: Javier Marías
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für mich: weil ich alleine bin und lebe –; ich sehe gelegentlich welche, die meinesgleichen sind in einer Hinsicht, Personen, die mit niemandem zusammenleben und höchstens Besucher empfangen, und es kann sein, daß der eine oder andere bleibt, um eine Nacht mit ihnen zu verbringen, wie es auch in meinem Appartement geschieht, sollte man mich von irgendeinem Beobachtungsposten aus erblicken.
    Es gibt einen Mann, der gegenüber lebt, jenseits der Bäume, deren Wipfel das Zentrum dieses Platzes krönen, genau in meiner Höhe, ein dritter Stock, die englischen Wohnungen haben keine Jalousien oder nur selten, allenfalls Vorhänge oder Fensterläden, die gewöhnlich erst geschlossen werden, wenn der Schlaf seine ziellosen Fangspiele beginnt, und diesen Mann sehe ich oft tanzen, manchmal in Begleitung, doch fast immer allein und mit großer Begeisterung, wobei er sich bei seinem Getanze oder besser Gehüpfe im ganzen länglichen Wohnzimmer hin und her bewegt, es nimmt vier große Fenster ein. Er ist kein Profi, der übt, auf keinen Fall, das ist sicher: gewöhnlich ist er in Straßenkleidung, manchmal sogar mit Krawatte und allem, als sei er gerade zur Tür hereingekommen nach seinem Arbeitstag und seine Ungeduld erlaube ihm nur, das Jackett auszuziehen und die Ärmel hochzukrempeln (aber in der Regel trägt er elegante Pullover oder langärmelige Polohemden oder kurzärmelige Nickis), und seine Tanzschritte sind spontan, improvisiert, nicht ohne Harmonie und Anmut, aber ich würde sagen, ohne großes Maß, ohne Takt oder Übung, je nachdem, zu was ihn die Musik inspiriert, die ich nicht höre und die vielleicht nur er hört, mit dem Fernglas für die Pferderennen meinte ich zu sehen – so glaube ich: ich halte es mir ab und zu vor die Augen, auch zu Hause –, daß er sich irgendeinen Kopfhörer oder sonst ein Gerät in die Ohren steckt, ohne Zweifel etwas Schnurloses, sonst könnte er nicht so hüpfen und sich so frei bewegen. Das würde erklären, daß er an manchen Abenden mit seinen Darbietungen anfängt, wenn es schon sehr spät ist, vor allem für England, wo kein Nachbar nach elf Uhr, nicht einmal eine Stunde früher, laute Musik von ihm dulden würde, ich weiß nicht, wie er es anstellt, um das Geräusch seiner tanzenden Füße zu dämpfen. Vielleicht versucht er, den Schlaf herbeizurufen, wenn er so spät beginnt: sich zu ermüden, sich zu lösen, sich zu betäuben, die Mühen des Bewußtseins zu vertreiben. Er ist ungefähr fünfunddreißig Jahre alt, schlank, mit knochigen Gesichtszügen – Kiefer und Nase und Stirn –, doch von athletischem Körperbau, ziemlich breite Schultern, flacher Bauch und von beachtlicher Beweglichkeit, alles wirkt natürlich und nicht wie das Ergebnis eines Fitnesstrainings. Er trägt einen dichten, aber gepflegten Bart, wie ein Pionier-Boxer, doch ohne die Ondulierungen des neunzehnten Jahrhunderts, glatt, und kämmt sich das Haar nach hinten mit einem Mittelscheitel, als trüge er einen Nackenschopf, aber ich habe ihn nicht gesehen, am ersten besten Tag läßt er ihn wachsen. Es ist ein merkwürdiger Anblick, wie er sich zu verschiedenen Rhythmen bewegt, ohne daß ich je die Musik hören könnte, die ihn führt, ich unterhalte mich damit, sie zu erraten, sie ihm im Geist aufzulegen, um – wie soll ich sagen – ihm die Lächerlichkeit zu ersparen, in der Stille zu tanzen, vor mir in der Stille, der Anblick ist unbegreiflich, absurd, fast wahnsinnig, wenn man nicht mit seinem musikalischen Gedächtnis – oder sogar mit der hervorgeholten und aufgelegten erahnten Platte, wenn man sie bei der Hand hat – ersetzt, was diesen Menschen beherrscht oder führt und nie zu hören ist, zuweilen denke ich: ›Vielleicht tanzt er zum Hucklebuck von Chubby Checker, nach dem Furor des Oberkörpers zu urteilen, oder zu etwas von Elvis Presley, Burning Love zum Beispiel, mit diesem rasanten Kopfgeschüttel wie von einer Puppe und diesen kurzen Schritten, oder das muß weniger alt sein, womöglich Lynyrd Skynyrd , dieses berühmte Lied aus Alabama, was weiß ich, er hebt die Oberschenkel sehr hoch, wie die Schauspielerin Nicole Kidman, als sie es unverhofft in einem Film tanzte; und jetzt ist es vielleicht ein Calypso, ich erkenne in seinen Hüften einen absurd antillanischen Schwung oder was auch immer, und außerdem hat er Rumbakugeln in die Hände genommen, besser, ich wende den Blick ab oder ich lege ihm auf meinem Plattenspieler sofort I learn a Merengue, Mama oder Barrel of
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