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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
Autoren: Javier Marías
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Tür betreten will, schon fürs Ausgehen gekleidet und mit den Fingern ungeduldig auf den Türrahmen trommelnd; der sie zwingt, sich von ihnen zu entfernen und sie zu vernachlässigen, und sie Gefahren aussetzt und zu ähnlich fröhlichen Exzessen schleppt, wie ich sie mir hier nicht selten gönne … Es kann aber auch ein despotischer, bösartiger Typ sein, der sie unterwirft und isoliert und ihr nach und nach seine Forderungen und seine Verbote einflüstert, verkleidet als Verliebtheit, Schwäche und Eifersucht, als Schmeichelei und Bitten, ein hinterhältiger Mann, der vielleicht in einer regnerischen, weltabgeschiedenen Nacht seine großen Hände um ihren Hals schließt, während die Kinder – meine Kinder – aus einer Ecke zusehen, an die Wand gepreßt, als wollten sie, daß sie nachgebe und verschwinde und mit ihr der böse Anblick und das unterdrückte Weinen, das sich Bahn brechen möchte, aber es nicht schafft, der böse Traum und das andauernde, seltsame Geräusch, das ihre Mutter im Sterben von sich gibt. Doch nein, dazu wird es nicht kommen, dazu kommt es nicht, ich werde dieses Glück nicht haben und nicht dieses Unglück (Glück in der Vorstellung und in der Wirklichkeit Unglück) … Wer weiß, wer uns ersetzt, wir wissen nur, daß man uns immer ersetzt, bei allen Gelegenheiten und unter allen Umständen und in jeder Funktion, in der Liebe, der Freundschaft, im Beruf und im Einfluß, in der Beherrschung und im Haß, der unser am Ende ebenfalls überdrüssig wird; in den Wohnungen, die wir bewohnen, und in den Städten, die uns dulden, an den Telefonen, die uns überzeugen oder uns geduldig zuhören mit dem Lachen am Ohr oder mit einem zustimmenden Gemurmel, im Spiel und im Geschäft, in den Läden und in den Büros, in der kindlichen Landschaft, von der wir glaubten, sie gehöre nur uns, und in den Straßen, die erschöpft sind vom ständigen Anblick des Vergehens, in den Restaurants und auf den Promenaden und in unseren Sesseln und zwischen unseren Laken, bis kein Geruch oder irgendeine Spur mehr an ihnen bleibt und sie zerrissen werden, um Streifen oder Tücher aus ihnen zu machen, und in unseren Küssen ersetzt man uns, und beim Küssen schließen sich die Augen, in den Erinnerungen und in den Gedanken und in den Tagträumen und überall, ich bin nur wie Schnee auf den Schultern, glatt und sanft, und der Schnee hört immer auf.
    Ich schaue durch das Fenster meines Appartements, das irgendeine englische Frau, die ich nie gesehen habe, naiv möbliert hat, während ich auflege und abnehme und erneut wähle, ich betrachte die träge Nacht von London über den Square oder Platz hinweg, der allmählich leer wird von den tätigen Menschen und von den entschiedenen Schritten, damit ihn für eine Weile – ein Zwischenspiel – die untätigen mit ihrem erratischen Schritt einnehmen, der sie jetzt zu den Papierkörben und Abfalleimern führt, in die sie ihre aschfarbenen Arme versenken, um nach uns unsichtbaren Schätzen zu graben oder nach dem zufälligen Lohn ihres überlebten Tages, wenn es noch nicht tiefe Nacht ist, aber auch nicht mehr Tag, oder wenn es noch immer heute ist für diejenigen, die nach Hause zurückkehren oder sich zum Ausgehen anziehen, aber schon gestern für diejenigen, die kommen und gehen, ohne sich je zu orientieren. Ich hebe den Blick, um die orientierte, lebendige Welt zu suchen und weiter zu betrachten, zu der ich in meiner Vorstellung noch immer gehöre und die sich nach und nach vor der dämmrigen Asche der Luft in ihre erleuchteten Interieurs flüchtet, um mich von der desorientierten Welt der in die Abfälle eingetauchten und von ihnen bald nicht mehr zu unterscheidenden Gespenster zu entfernen und ihr nicht gleich zu werden; ich hebe den Blick über den bereits ruhiger werdenden Verkehr und die Schattengestalten der Bettler und die Nachzügler – fünf oder sechs Laufschritte und der Sprung auf den zweistöckigen Autobus ohne Türen, der fast schon anfährt, die Absätze der Frauen schrammen, sie sind ernsthaft gefährdet; ich schaue über die Bäume hinweg und durch sie hindurch und an der Statue vorbei zur anderen Seite, wo sich das elegante Hotel und die riesigen Büros und die bewohnten Häuser befinden, die Familien oder nicht immer Familien beherbergen, nicht immer das, was ich einmal war, aber bisweilen das, was ich jetzt bin – ›Ich werde mehr sein, der ich bin: ich werde jetzt mehr ich sein‹, sage ich mir; › I’ll be more myself ‹, zitiere ich
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