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Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze

Titel: Dein Gesicht morgen / Fieber und Lanze
Autoren: Javier Marías
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zu memorieren, das sagte man, und so verhielt er sich mir gegenüber; und es erschien mir nicht respektvoll, der Sache nach seinem Tod auf eigene Rechnung nachzugehen, es war wie ein Verstoß gegen seine Wünsche, wenn er sie nicht mehr aufrechterhalten oder widerrufen konnte. (›Seltsam, die Wünsche nicht weiterzuwünschen‹, zitierte ich innerlich aus dem Gedächtnis, ›und selbst den eigenen Namen wegzulassen.‹) Ich war unschlüssig, ob ich sofort Wheelers Nummer wählen sollte, damit er mir diese neuen Angaben über seine eigene Vergangenheit erweiterte und mir erklärte, warum zum Teufel er sich so lange über Tupra ausgelassen und meine Geduld strapaziert hatte. Denn gerade vor seinem Anruf hatte ich es mit der Nummer in Madrid probiert, die noch immer unter meinem Namen lief, aber nicht mehr meine war, sondern die Luisas und der Kinder, und sie war mit einer derartigen Hartnäckigkeit besetzt gewesen, daß ich es so rasch wie möglich erneut versuchen wollte, sei es auch nur, um die Dauer des Nicht-Gelingens zu ermessen. Deshalb rief ich Wheeler nach dem Auflegen nicht gleich an, ich hatte es eilig, weiter diese Nummer zu wählen, die ich verloren hatte oder die ich weglassen mußte, und unter der ich mich früher oft gemeldet hatte, wenn ich zu Hause war. Jetzt meldete ich mich nie, denn ich war nicht mehr zu Hause und konnte auch nicht zum Schlafen nach Hause kommen und war in einem anderen Land, und wenn auch nicht sehr allein, wie Wheeler glaubte, manchmal eben doch ein wenig, oder womöglich ertrug ich es schlecht, nicht immer in Gesellschaft und nicht immer betäubt zu sein, und dann lastete die Zeit auf mir oder ich behinderte ihr Vergehen, vielleicht fiel es mir deshalb nicht schwer, Wheeler zuerst aufmerksam bei ihm zu Hause zuzuhören und dann Tupras Vorschlag anzunehmen, denn wenn er mir zu etwas verhalf, dann zu ständiger Gesellschaft, obwohl sie gelegentlich nur eine gehörte und gesehene war, und auch zu Portionen von Betäubung.
    Die Telefonnummer Luisas in Madrid war noch immer besetzt, es lag keine Störung vor, wie man mir beim Störungsdienst sagte, und beide weigerten wir uns, Handys zu benutzen, ein Instrument der Belagerung. Vielleicht surfte sie im Internet, ich hatte ihr dringend empfohlen, eine zweite Leitung legen zu lassen, um das Telefon nicht zu blockieren, aber sie brachte es nicht zustande, obwohl ich ihr angeboten hatte, sie ihr zu bezahlen, sie benutzte das Netz nur ab und zu, das stimmte, also war es unwahrscheinlich, daß es daran lag, so lange besetzt an einem Donnerstagabend, es war einer der Tage, die im Prinzip dafür vorgesehen waren, daß ich mit dem Jungen und dem Mädchen sprechen konnte, bevor sie schlafen gingen, es wurde allmählich zu spät, eine Stunde später in Spanien, dort nach zehn und hier nach neun, bestimmt hatten die drei vor dem laufenden Fernseher oder bei irgendeinem Video zu Abend gegessen, der Junge und das Mädchen wurden sich nicht so leicht einig in ihren Vorlieben, zu groß war der Altersunterschied, zum Glück war der Junge geduldig und beschützend zu ihr und gab oft nach, ich begann, um ihn zu fürchten, er war sogar beschützend zu seiner Mutter und, was weiß ich, sogar zu mir, jetzt, da er mich weit entfernt und verbannt wußte, Waise nach seinem Urteil oder seinem Empfinden, wer als Schutzschild fungiert, leidet viel im Leben, auch der Wächter mit seinem stets wachen Ohr und Auge. Bestimmt lagen sie schon im Bett, wenn sie auch noch einige Minuten lang das Licht eingeschaltet hatten, die Zeit, die wir, Luisa und ich, ihnen als Zugabe oder Verlängerung gewährten, damit auch sie etwas lesen konnten – einen Comic, ein paar Zeilen, eine Erzählung –, während der Schlaf ihnen auf der Spur war, es ist ein Unglück, die genauen Gewohnheiten eines Zuhauses zu kennen, in dem man plötzlich fehlt und in das man nur noch als Besucher und nach vorheriger Anmeldung und wie ein naher Verwandter und in großen Abständen zurückkehrt, man bleibt gefangen im Spinnennetz der Szenerie und der Rhythmen, die man konstruiert hat und die einen trugen und die unmöglich zu sein schienen ohne die eigene Beteiligung und die eigene Existenz, man ist ein Langzeitgefangener dessen, was man unzählige Male miterlebt und getan hat, und unfähig, sich vorzustellen, daß es zu Veränderungen kommt, obwohl man sich bewußt ist, daß nichts sie verhindert und daß es sie durchaus geben und man sie sogar erstreben kann, und lernt, sie abstrakt zu vermuten,
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