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Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod
Autoren: Gunnar Staalesen
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sagen? Veum?«
    Ich zauste ihm das Haar. »Sag du nur Varg zu mir.«
    Er nickte eifrig und strahlte mich an. Seine Schneidezähne – es waren schon die neuen – wirkten viel zu groß in seinem kleinen Mund. »Willst du mal sehen, was ich gemalt habe?«
    Ich nickte und betrachtete seine Bilder. Blaue Sonnen und gelbe Bäume, rote Berge und Schiffe mit Rädern. Pferde mit Kaninchen auf dem Rücken und kleine windschiefe Häuser mit unsymmetrischen Fenstern und Blumengärten.
    Ich trat ans Fenster und schaute hinaus – und hinunter. Es war, als säße ich in einem Flugzeug. Menschen, Autos, alles wurde so klein. Die viergeschossigen Blocks sahen wie plattgedrückte Streichholzschachteln aus, und die Straße zwischen den Blocks glich einer Gokart-Bahn.
    Dann hob ich den Blick zum steilen Berghang des Lyderhorns, dessen grauschwarze Silhouette sich gerade noch gegen den Abendhimmel hob, als sei das Lyderhorn der Himmel, als sei der dunkle Berg in die Wolkendecke hoch gewachsen und liege jetzt wie eine bedrohliche Schneewehe über dem ganzen Stadtteil – wie ein Vorzeichen des Jüngsten Tages, oder ein Vorzeichen von Tod.

6
    Wir saßen in der Küche und tranken Kaffee.
    Aus dem Wohnzimmer hörten wir das Schnattern aus dem Fernseher, Roar guckte das Kinderprogramm.
    Die Küche war in einem kräftigen Gelb gestrichen, das nicht zur ursprünglichen Ausstattung der Wohnung gehörte. Die Schranktüren waren orange und die Gardinen weiß mit aufgedruckten Apfelsinen. Der Küchentisch hatte eine grauweiße Kunststoffoberfläche, aber sie hatte eine runde, gelb und orange gesprenkelte Tischdecke darauf gelegt. Den Kaffee servierte sie in grünen Bechern mit roten Punkten, und in einem Bastkorb lagen ein paar Stücke Gebäck. »Ich kann Ihnen gar nichts Besonderes anbieten, aber …« Sie zuckte mit den Schultern.
    Ich sagte: »Aber der Kaffee schmeckt prima.«
    »Trinken Sie nur. Es ist noch mehr in der Kanne.«
    Ich betrachtete die halb volle Glaskanne, die auf der eingeschalteten Wärmeplatte der Kaffeemaschine stand und nickte.
    »Waren das dieser Joker, wie sie ihn nennen, und seine Bande, die das Fahrrad genommen hatten?«
    »Ja«, antwortete ich. »Ich habe von einer Geschichte gehört, die hier kürzlich passiert ist – mit der Mutter eines Spielkameraden von Roar.«
    »Ja. Ich weiß. Ich habe mit ihr darüber gesprochen. Sie …«, sie biss sich auf die Lippen. »Es ist beinah unglaublich. Sie … sie hatten das Fahrrad ihres Sohns weggenommen, und sie ging hinauf, um es zu holen. Und sie haben sie regelrecht gefangen genommen, als sei sie ein Mädchen und nicht … und keine erwachsene Frau!«
    »Wurde sie …«
    Sie stellte den Kaffeebecher hart ab. »Diese Burschen sollten sich schämen! Wenn so etwas vorgekommen wäre … ich meine, hätten wir … als ich jung war. Nicht auszudenken. Aber so ist es …« Sie blickte mir starr in die Augen. »So ist es, wenn man allein erziehende Mutter ist. Wir sind Freiwild für alle Männer, angefangen bei Rotzjungen und bis zu alternden Don Juans. Es ist zum Kotzen!«
    »Aber wurde sie regelrecht …?«
    »Nein. Sie wurde nicht vergewaltigt, obwohl das vielleicht als Nächstes kommt. Sie haben sie belästigt, sie festgehalten, angefasst – Sie wissen schon, was ich meine. Der … dieser Joker hat ihr die Hose ausgezogen und sie gezwungen … sie gezeigt, dass alle sie sahen. Aber weiter sind sie nicht gegangen.«
    »Aber warum ist sie nicht zur Polizei gegangen?«
    »Zur Polizei? Und was kann die tun? Es gab ja keine Zeugen. Nein, keine außer ihnen selbst, der Bande … und die wagen kein Wort zu sagen, die haben genau solche Angst wie wir anderen … vor diesem Joker. Hier war einer, der hat versucht, etwas zu tun. Den haben sie beinahe zum Krüppel geschlagen, ich glaube kaum, dass der noch einmal richtig auf die Beine kommt. Wenn sie zur Polizei ginge … Als Erstes würde sie nie wieder Post kriegen. Es hat ein paar andere Eltern gegeben, die sind zu Joker nach Hause gegangen, zu seiner Mutter. Danach ist immer ihre Post verbrannt. Sie steckten brennende Putzwolle in ihre Briefkästen. Schließlich mussten sie sich unten auf der Post ein Postfach nehmen. Und wir anderen, die wir allein sind, mit kleinen Kindern, du ahnst ja nicht, was die sich einfallen lassen … selbst mit kleinen Kindern! Ein kleines Mädchen von sechs Jahren ist nach Hause gekommen und hatte Spuren von brennenden Zigaretten am ganzen Körper, überall!«
    Mein Magen krampfte sich zusammen. Ich sah
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