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Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod
Autoren: Gunnar Staalesen
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wirklich …« Und dann lachte sie ein lang gezogenes befreiendes Lachen. Der mürrische Mund entspannte sich zu einem strahlenden Lächeln, ihr ganzes Gesicht wurde schön und glücklich und jung – bis sie aufhörte zu lachen und zehn Jahre älter und gleichzeitig zwanzig Jahre jünger wurde. Sie hatte den Mund eines kleinen Mädchens und die Augen einer Frau in mittleren Jahren. Ich sollte zusehen, dass ich nach Hause kam.
    »Aber was sind Sie eigentlich … wie ist Roar auf Sie gekommen?«
    »Ich führe private Ermittlungen durch, bin eine Art Detektiv. Er hat mich im Telefonbuch gefunden.«
    »Detektiv?« Sie schien mir nicht ganz zu glauben.
    »Es stimmt, Mama«, sagte Roar. »Er hat ein Büro in der Stadt, aber er hat … er hat keinen Revolver.«
    Sie lächelte schwach. »Na, dann ist es ja gut.« Sie schaute sich um. »Ich weiß nicht … kann ich Sie vielleicht zu einer Tasse Kaffee einladen?« Sie nickte zu dem Wohnblock hinüber.
    Ich sah auf die Uhr. Ich sollte zusehen, dass ich nach Hause kam. »Ja, danke. Warum nicht«, sagte ich.
    Also ging ich mit Roar und seiner Mutter an meinem Wagen vorbei zu einem der beiden Treppenhäuser des zwölfgeschossigen Blocks. Wir schlossen das Fahrrad in den Keller und betraten einen der beiden Aufzüge. Sie drückte auf die 9. Die Kabine hatte graue Stahlwände, von denen die Farbe bereits abblätterte. Sie glich eher einer Gaskammer als einem Beförderungsmittel.
    Wenche Andresen blickte mich mit ihren großen Augen an und sagte: »Wenn wir Glück haben, kommen wir bis nach oben.«
    »Wieso?«
    »Ach, da sind ein paar Jugendliche, die ständig Unfug damit treiben. Sie stehen in jeder Etage und drücken gleichzeitig auf den Knopf, und dann gibt es einen Kurzschluss oder so etwas. Auf jeden Fall bleibt der Aufzug zwischen zwei Etagen stecken, und dann kann man warten, bis der Hausmeister kommt und ihn wieder in Gang bringt.«
    »Scheint ja ein ideales Milieu für Jugendliche zu sein. Gibt es denn außer Fahrraddiebstahl und Fahrstuhlrandale keine anderen Freizeitbeschäftigungen?«
    »Die Kommune hat einen Mann für die Jugendarbeit angestellt, aber ich glaube nicht, dass das viel bringt. Er hat einen Jugendclub gegründet. Våge heißt er.«
    Der Fahrstuhl stoppte, und wir waren oben. Zwei Türen führten aus dem Treppenhaus, und wir gingen durch die eine und kamen auf einen offenen Gang, der an der ganzen Front des Hauses entlanglief und nur vom Treppenhaus- und Fahrstuhlschacht unterbrochen wurde. An diesem Gang lagen die Wohnungstüren. Auf dem Weg zu Wenche Andresens Tür passierten wir zwei andere Türen und eine Reihe von Fenstern, die meisten mit Gardinen verhängt. Die Türen waren blau gestrichen. Wir waren im neunten Stock, und der Asphalt vor dem Haus schien unglaublich tief unter uns zu liegen. Ein Sprung von hier oben würde den sicheren Tod bedeuten.
    An Wenche Andresens Tür hing ein handgemaltes Schild: Hier wohnen Wenche, Roar und Jonas Andresen. Sie kommentierte dies nicht, sondern schloss uns schweigend auf und ließ uns ein.
    Im Flur hängte sie ihre Daunenjacke auf und nahm mir meine Jacke ab. Ich blieb etwas unbeholfen mitten auf dem grünen Nadelfilz stehen und fühlte mich so, wie man sich in einem fremden Flur fühlt, wenn man nicht weiß, wohin man sich wenden soll.
    Roar nahm meine Hand. »Komm, ich zeig dir mein Zimmer.«
    »Dann setze ich in der Zwischenzeit Kaffee auf«, sagte seine Mutter.
    Roar zog mich zu seinem Zimmer. Aus der Nähe erwiesen sich die grünweißen Gardinen als weiße Lastwagen auf grünem Grund. In einer Ecke stand ein Bett aus unbehandeltem Holz, offenbar die untere Hälfte eines ehemaligen Etagenbetts. An den Wänden hingen Plakate mit Comicfiguren und Tieren, ein großes Bild von einem Clown in der Manege und ein kleines Kalenderbild von einem Pfadfindertrupp auf dem Weg durch eine enge, von weiß gemalten Holzhäusern gesäumte Straße. Auf dem Fußboden war ziemlich wahllos Spielzeug verstreut: hölzerne Eisenbahnschienen, kleine, abgestoßene Modellautos, Stofftiere, aus deren kaputten Bäuchen Gedärm aus Wolle und Stoffresten hervorquoll, und kleine Cowboy- und Indianerfigu­ren mit gebrochenen Armen und starrem Gesichtsausdruck. Auf einem kleinen grünen Tisch lag ein Haufen von Zeichenblöcken, losen Bögen mit Zeichnungen und Stapeln alter Comichefte.
    In diesem Zimmer wohnte ein Kind, und es war ein Zimmer, in dem ein Kind sich wohl fühlte. Roar blickte mich ernst an und sagte: »Du? Wie soll ich zu dir
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