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Dein bis in den Tod

Dein bis in den Tod

Titel: Dein bis in den Tod
Autoren: Gunnar Staalesen
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das Fahrrad zwischen uns.
    »Wie … wie hast du das gemacht?«, fragte er.
    »Ich habe es einfach geholt«, entgegnete ich, als handele es sich dabei um die leichteste Sache der Welt.
     
    Sie brauchte nicht einmal den Mund aufzumachen, da wusste ich schon, wer sie war. Sie kam uns entgegengeflattert wie ein erschrockenes Waldhuhn, das dunkle Haar wie eine Wolke um den Kopf, das Gesicht so angespannt und ängstlich, dass es aussah, als habe sie drei Augen, doch das dritte war ihr Mund. Sie trug blaue Samthosen, einen eng anliegenden, weißen Rollkragenpulli und eine rote und blaue Daunenjacke, die sie in der Eile offen gelassen hatte.
    »Roar«, rief sie schon aus fünfzig Meter Entfernung. »Wo bist du gewesen?«
    Sie packte ihren Sohn an den Schultern und starrte ihm ins Gesicht, als sei es eine Landkarte, auf der eingezeichnet war, wo er sich aufgehalten hatte. Ihr Kopf war voller wilder Locken, und das Haar war im Nacken ganz kurz geschnitten. Sie hatte einen dieser weißen, schmalen Nacken, die dich innerlich zum Weinen bringen, die dir all die tausend Schwäne deiner Kindheit im Nygårdsparken in Erinnerung rufen, die dich tief und aufrichtig bedauern lassen, dass du selbst nie einen solchen Nacken gefunden hast, um dich daran auszuweinen, oder dass du den, den du einmal hattest, im Stich gelassen hast. Es war kurz gesagt einer dieser Nacken, die dich ins Schwafeln geraten lassen, innerlich.
    »Mama«, sagte Roar. »Das ist … weil nämlich Joker und die … die haben mir mein Fahrrad weggenommen, und da bin ich …«
    Sie warf mir einen frostigen Blick zu und sagte mit einer Stimme, die einem im Hochsommer am Strand bei dreißig Grad im Schatten sicher gut getan hätte: »Wer sind Sie?« Und wieder Roar zugewandt: »Hat dieser Mann dir etwas getan?«
    »Mir was getan …?« Er blickte sie verwundert an.
    Sie schüttelte ihn. »Nun antworte schon, Junge. Los, antworte!«
    Sie sah wieder mich an, und Tränen kullerten aus ihren Augen. »Wer sind Sie? Wenn Sie ihn auch nur angerührt haben … Dann bringe ich Sie um.«
    Ihr Gesicht hatte rote Flecken bekommen, und ihre kleine Nase glänzte von Schweiß. Ihre Augen waren dunkelblau und sprühten Funken wie Gasflammen. »Ich heiße Veum«, sagte ich, »und ich habe nicht …«
    Roar unterbrach mich. Jetzt hatte er Tränen in den Augen. »Er hat nicht … er hat mir doch geholfen … er hat mir mein Fahrrad wieder gebracht. Er hat oben in der Hütte bei Joker und denen mein Fahrrad geholt, damit du nicht …«
    Die Tränen kullerten, und sie sah ihn hilflos an. Dann nahm sie ihn in den Arm und flüsterte ihm etwas ins Ohr.
    Ich blickte mich um. Es war jetzt nahezu dunkel, und in den meisten Fenstern war das Licht angegangen. Autos fuhren vorbei, und müde Männer gingen mit gesenkten Köpfen von ihren Wagen zu den Türen und Aufzügen, hinauf zu ihren Frauen und den Abendbrottischen, zwanzig Meter über der Erdkruste, zwanzig Meter näher am Weltraum und einen Arbeitstag näher an der Ewigkeit. Auf dem Bürgersteig vor dem Haus, in dem sie wohnten, spielte sich ein kleines Familiendrama ab, doch keiner von ihnen schaute auf, keiner von ihnen registrierte, dass dort eine junge Frau, ein kleiner Junge, ein nicht mehr ganz so junger Mann und ein ziemlich neues Fahrrad standen. Wir hätten uns ebenso gut allein an einem entlegenen Ort in der Sahara befinden können.
    Sie sah mich über die Schulter ihres Sohnes an – mit einem Gesicht, das mindestens zwanzig Jahre zu jung war. Der Mund zeigte diesen mürrischen Ausdruck eines gekränkten kleinen Mädchens, das seinen Lolli nicht bekommen hat, aber es war ein fülliger Mund, mit runden, sinnlichen Lippen, und das Mienenspiel um diesen Mund herum verriet, dass sie am Ende schon ihren Willen bekommen würde. Die dunkelblauen Augen waren jetzt ruhig geworden.
    Sie sagte: »Entschuldigung. Ich war so erschrocken. Er – er ist noch nie so lange weg gewesen. Ich, ja …«
    »Das kann ich gut verstehen«, erwiderte ich.
    Sie richtete sich ganz auf und gab mir die Hand, während sie sich mit der linken das Haar aus der Stirn strich. »Ich bin … ich heiße … Wenche Andresen.«
    Ich behielt ihre Hand ein paar Sekunden in meiner. »Veum. Varg Veum.«
    Sie wirkte verwundert, und ich merkte, dass sie den Vornamen nicht verstanden hatte, oder dass sie glaubte, sich verhört zu haben.
    »Mein Vater hatte Sinn für Humor«, sagte ich. »Er hat ihn mir gegeben.«
    »Wen gegeben …«
    »Den Namen, Varg.«
    »Also du heißt
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