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de profundis

de profundis

Titel: de profundis
Autoren: Viktor Jerofejew
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von der Seite an.
    »Ich nehme alles zurück«, sagte er versöhnlich.
    »Das nenne ich männlich«, lobte ihn der Vorleser, und er und Knaster tauschten einen lang anhaltenden Händedruck, wonach Knaster ihm eine Papirossa anbot. Der Vorleser steckte sich die Papirossa in den Mund, doch das Feuer lehnte er ab.
    »Überall glaube ich meine Schülerinnen zu sehen«, klagte Knaster. »Sogar zu Hause, da kommt es vor, dass ich dasitze und esse, und das Kreischen meiner Schülerinnen kommt unterm Kühlschrank hervor. Oder ich lege mich ins Bett – und sie sind schon zur Stelle, zerren an meiner Unterhose und machen mir die Hölle heiß. Ich habe mir einen Reisigbesen gegen sie angeschafft, ich versuche sie damit zu vertreiben, aber sie langen immer bloß nach meiner Unterhose, verstehen Sie, es ist richtig gemein. Schlimme Mädchen sind das.«
    Draußen war es windig und feucht. Der Vorleser schlug den Kragen seines Regenmantels hoch; vom Wind schmerzten ihm die Ohren. Große dreckige Eisklumpen schwitzten Dreck aus. Eine Losung knatterte im Wind.
    »Wann wird es bloß endlich wärmer?«, sagte der Vorleser grimmig.
    Ljussja lief nachdenklich neben dem Vorleser her, voller Verehrung wegen seines Sieges über Knaster. Der Vorleser war jetzt endgültig müde und tendierte dazu, einfach schlafen zu gehen. Ihn schreckte die Vorstellung, seine Begleiterin weiß Gott wohin nach Hause bringen zu müssen …
    Es stellte sich die Frage: wohin? Das Wohnheim taugte nicht. Was das Hotel betraf, so gaben dort die Empfangs- und Etagendamen den Ton an – wenn man es aber schlau anstellte und mit Hilfe des Autors die herrschenden Vorschriften überwände, erhielte die Erzählung einen phantastischen Anstrich, ließe den misstrauischen Leser aufmerken, der, einmal in Zweifel gestürzt, des Weiteren überhaupt nichts mehr glauben würde. Also musste man – dem Leser zu Gefallen – den Vorleser ins Erdgeschoss umquartieren, ihm ein Einzelzimmer zuweisen, das Fenster weit offen stehen lassen und die Szenerie eines menschenleeren Hofes zeichnen, die schwere Heldin durchs Fenster wuchten, ihr hinaufhelfen – der Vorleser ächzte, lief rot an, na los! – Ljussja fuhr dem Vorleser mit dem Absatz quer über die Wange – und war im Zimmer. Und nun sitzt sie da im Sessel; auf dem Tischchen die Kringel von Gläsern, der Vorleser spült zwei Gläser im Badezimmer aus, das nicht umsonst erdacht wurde, aber jener Dienstreisende, der gegen Morgen hereinplatzte, da er unter der Tür einen Lichtstreifen gesehen hatte, blieb lediglich in der Rohfassung erhalten. Für ihn fand sich kein Platz – die Erzählung nahm eine andere Entwicklung, und der Dienstreisende blieb auf der Strecke.
    »Ja«, sagte der Vorleser, während er dagestanischen Kognak einschenkte, »man könnte beinahe sagen: ein Abenteuer.«
    Ljussja warf die Jacke ab. Wieder sangen die beiden gelockten Frauen über ihrem Herzen.
    »Den Knaster hast du vielleicht toll abgewimmelt!«, konnte sie sich nicht beruhigen.
    Der Vorleser zog die Vorhänge zu und ließ sich schwer in den Sessel neben ihr fallen.
    »Trinken wir?«
    Sie tranken.
    »Ja …«, sagte der Vorleser. »Eine medizinische Ausbildung … Hast du Leichen gesehen?«
    »Hab ich«, sagte Ljussja.
    »Und? Ist es schrecklich?«
    »Ich weiß nicht«, sagte Ljussja.
    Der Vorleser betrachtete traurig das Bett und konnte sich keine Fortsetzung vorstellen.
    »Kannst du auch Gedichte schreiben?«, fragte Ljussja.
    »Natascha und ich kommen immer später«, dichtete der Vorleser. »Natascha und ich sind Sanitäter.«
    Ljussja begriff, dass der Vorleser einen Witz gemacht hatte, und kicherte fröhlich. Dabei wurde ihr Gesicht dicker. Der Vorleser wusste nicht, was er noch sagen sollte, und sagte:
    »Na schön, höchste Zeit, schlafen zu gehen.«
    »Ich gehe«, sagte Ljussja erschrocken.
    »Wo willst du denn hin?« Der beschlagene Leser wird die alltägliche Grobheit dieses Satzes schätzen; manche Leserin (die besonders sensible) wird darüber eine Träne vergießen.
    Der Vorleser stand auf, ging mit unsicheren Schritten auf Ljussja zu und berührte ihre raue Wange.
    »Wie alt bist du?«
    »Fünfzehn.«
    Der Vorleser hatte geglaubt, dass ihre Antwort ihn ein wenig ermutigen und trösten würde, doch der Trost wollte sich nicht einstellen. Er gestand sich ein, dass er zu weit gegangen war. Dass da nichts war, woran er sich festhalten konnte, gestand er sich ein.
    »Na schön«, sagte der Vorleser und gab Ljussja einen misslungenen
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