Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
de profundis

de profundis

Titel: de profundis
Autoren: Viktor Jerofejew
Vom Netzwerk:
Erkältung, dem durchlöcherten Trottoir, dem Ehestreit, wovon auch immer, gewissenhaft imaginiert. Der Vorleser tat einen Schritt. Daraufhin geschah Folgendes: Eine große Gestalt im Damenmantel stürzte auf hohen Absätzen davon. Der Vorleser drückte sich an die Wand, bereit zu einem freudlosen Kampf, sich selbst verfluchend. Jemand rief mit schwacher Stimme: Nataschka! Nataschka! Der Vorleser hielt nach dem schwachen Schrei Ausschau – da irgendwo wurde geatmet, geräuschvoll, unregelmäßig. Er blickte zum Himmel (da war kein Himmel), vor seine Füße; er pfiff ein wenig vor sich hin. Dort atmete man noch immer und entfernte sich nicht vom verabredeten Treffpunkt. Eine Minute verging.
    »Also haben Sie mir geschrieben?«, fragte der Vorleser endlich.
    Eine Antwort blieb aus, aber durch das Atmen hindurch meinte der Vorleser Weinen wahrzunehmen. Trotz der spärlichen Beleuchtung konnte der Vorleser feststellen, dass mädchenhafte Schüchternheit, Aufregung, Herzklopfen und Bescheidenheit…, kurzum, der Gegenstand der Rührung wurde verkörpert durch eine stämmige und kräftige kleine Gestalt. Die Gestalt trug eine schwarze Hose mit Schlag und eine gesteppte Nylonjacke, eine Art Anorak mit gelben Streifen. Die Haarspitzen reichten bis auf den Kragen; die Haare waren knallig kupferrot. Der Vorleser hatte nichts gegen mädchenhafte Schüchternheit und brummte:
    »Na, wieso sagen Sie denn nichts?«
    Mädchenhafte Schüchternheit, Zaghaftigkeit und Herzklopfen antworteten nicht. Der Vorleser wusste, das war's, winkte ab und ging schlafen … Basta. So starb eine Erzählung, sinnlos, ganz plötzlich, ohne sich irgendwie entwickelt zu haben, und alles Übrige sind Nachsätze, ein Postskriptum, falsche Beschuldigungen, erhoben gegen ein unschuldiges Kind.
    »Wie heißen Sie?«, fragte der Vorleser zärtlich.
    »Sag ich nicht«, sagte sie und sah ihn an, als wollte sie zubeißen. Der Vorleser war sprachlos, unwillkürlich hingerissen von dem Gesicht, das aus der Dunkelheit heraustrat. Die Idee erfuhr freudig ihre Anwendung, der Traum war vorbei, die Idee begann sich zu entfalten. Von so einem Mädchen hatte er nicht zu träumen gewagt, so ein Mädchen war für ihn unerreichbar gewesen, es gehörte einer ganz anderen Dimension des Lebens an, und wenn er solche Mädchen in einer Menschenmenge sah, dachte er: was für eine Fratze. Er dachte: Das ist eine, die Prinzipien untergräbt, eine Bewahrerin absolut unschätzbarer Kostbarkeiten; eine, die aus dem Umfeld gewohnter Vorstellungen herausfällt. Jetzt verneigte er sich vor ihr. Er würde sich bemühen, ihr einen Abend zu schenken, den sie nicht vergessen würde, und obwohl seine Möglichkeiten durch die ganze Hässlichkeit dieser dunklen Stadt begrenzt waren, würde er sich bemühen. Und nicht Mitleid, nicht Mitgefühl… Nein.
    Wie ein Urlauber, der seine Initialen am Stamm einer Platane im Woronzowski-Park hinterlässt, wollte er eine Spur hinterlassen …, ein mystisches Bedürfnis. Er würde in ihren Erinnerungen leben, mochte er auch verzerrt und komisch aussehen, dafür aber rein – er wollte Reinheit und keine üble Wollust, keinen billigen Genuss, er wollte ihren Genuss, ihre Freude – für sich selbst.
    »Ach, ich weiß auch so, wie Sie heißen«, lachte der Vorleser.
    »Wissen Sie nicht«, versetzte Ljussja ärgerlich.
    »Geben Sie mir die Hand. Ich rate mal.« Sie streckte ihm ungläubig ihre Hand hin; sie war kräftig wie bei einem Mann, mit kurzen Fingern, und die Handfläche war hart und trocken wie altes Weißbrot.
    »Sie heißen Ljussja«, verriet der Vorleser nach eingehender Betrachtung der Hand.
    »Wie haben Sie das bloß erraten!«, rief Ljussja erschrocken. Rätselhaft lächelnd, überredete der Vorleser sie mit altmodischer Liebenswürdigkeit zu einem Restaurantbesuch.
    »Wie steht es bei euch so mit der Versorgung?«, fragte der Vorleser, Ljussja vorsichtig unterhakend. »Wie steht's mit Fleisch?«
    »Oh, Fleisch hat's viel, sehr viel«, antwortete Ljussja.
    »Und gibt es auch Randalierer?«
    »Die gibt's auch«, antwortete Ljussja.
    Als Ljussja das Restaurant erblickte, wehrte sie sich mit so grimmiger Verbissenheit, dass der Vorleser bereits an seinem Erfolg zweifelte. Als er sie endlich, unter Verwünschungen und Drohungen, herumgekriegt hatte, schrie der Türsteher, der von innen abgeschlossen hatte und durch einen Spalt zwischen den Vorhängen hindurchspähte: »Geschlossen!« – »Ich wohne hier im Hotel!«, schrie der Vorleser zurück.
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher