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de profundis

de profundis

Titel: de profundis
Autoren: Viktor Jerofejew
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sind alle immer so in Eile und gehen nie spazieren? Sie könnten doch gut spazieren gehen, in unserer Stadt gibt es schließlich Parks. Und überhaupt besitzt unsere Stadt viele schöne Sehenswürdigkeiten. Es gibt Dinge, die man nirgendwo sonst findet. Einzigartige Dinge! Es gibt zum Beispiel einen Richtplatz im Stil der Renaissance. Die Stadt ist im Großen und Ganzen sauber und adrett. Es wäre schön, den Kindern doch noch das Spazierengehen beizubringen. Sonst tun sie das nicht. Das ist nicht gut. Darum wirken Touristen in den Straßen unserer Stadt ja auch so bizarr.

Wangenknochen und Nase
und eine Schlucht
    Der Vorleser suchte das Postamt und konnte es nicht finden. Vereinzelte Passanten, auf die er in der Dunkelheit stieß, antworteten ihm, die Post sei längst geschlossen. Der Vorleser sagte, er brauche das geschlossene Postamt. Die Passanten – stumpfsinnige, uninteressante Leute – konnten das nicht begreifen: Es ging ihnen nicht in den Kopf, wozu jemand ein längst geschlossenes Postamt brauchte: Das war schon Metaphysik, und sie verschwanden ängstlich im Dunkeln. Übrigens wusste der Vorleser selbst nicht so genau, wozu er ein geschlossenes Postamt brauchte. Er hatte sich öfter lobend über die Post als Ort der Kommunikation geäußert. Er war begeistert von der allgemeinen Zugänglichkeit der Post, und er mochte den Geruch des schokoladenbraunen Klebstoffs und des heißen Siegellacks. Außerdem gab es auf der Post gratis lila Tinte und Federn, die mit viel Druck sogar schrieben – das erinnerte ihn an die Grundschule, die Schulbank mit dem Tintenfässchen, das Leibchen mit den angeknöpften Strümpfen, das er unter der Schuluniformhose anziehen musste – und er trug es, unter lautem Protest, mit Scham und Hass –, ein Tribut an die Irrationalität geschlechtlicher Zugehörigkeit. Dieser Hass nahm später seltsame Formen an: Abscheu gegenüber Damenunterwäsche, all diesen Unterröcken … Der Vorleser runzelte die Stirn und begrüßte mit Erleichterung die Ära der Strumpfhosen, als würde diese die Zeit seiner eigenen Erniedrigung endgültig beenden. Büstenhalter blieben allerdings in Gebrauch, und obwohl sie in Glitzerjournalen von hoch gewachsenen Amerikanerinnen mit gut ausgebildeten Kiefern auf dem Scheiterhaufen verbrannt wurden, blieb Galina Wassiljewna, die erste Lehrerin des Vorlesers, ihrem Büstenhalter bis in den Tod treu. Galina Wassiljewna starb leicht und österlich, wie es heutzutage nur noch Grundschullehrerinnen tun. Interessant, ob man Frauen wohl mit Büstenhalter beerdigt? Kürzlich hatte ich einen kleinen Streit mit meiner Frau, und das veränderte den Verlauf meiner Erzählung. Ich fürchte, ich bin viel zu empfänglich für alle möglichen Eindrücke, um Vorleser zu sein. Wie dem auch sei, verlassen Sie sich nicht allzu sehr auf mich, andererseits würde mir wohl niemand widersprechen, dass es gerade auf der Post einen für unsere Zeit seltenen Respekt vor Kleingeld gibt. Ja, da ist Turgenjew nicht mehr wert als ein Glas Sprudelwasser mit Geschmack aus dem Automaten, und es braucht mindestens vier Turgenjews, um Pauline Viardot, die ihr braunes Rennpferd gegen einen Volvo getauscht hat, mit einem traurigen französischen Brief zu beglücken, den zu schreiben man zu träge ist. Der Schriftsteller hatte irgendwann einmal die Viardot auf einer alten kratzenden Schallplatte singen gehört; das war die Stimme einer absolut unglücklichen Frau, betrogen von einem russischen Adligen. Aber eine geschlossene Post ist eine kalte, scheußliche Angelegenheit, und der Vorleser erschrak plötzlich und fragte sich, ob man ihn vielleicht hierher gelockt hatte, um ihn vor der verschlossenen Tür fürchterlich zu verprügeln. Bei der Lesung hatte er ein Zettelchen bekommen, auf dem stand: »Genosse Künstler! Entschuldigen Sie, aber Ihre Hosenfalle steht offen!« Der Saal roch friedlich nach Gummischuhen, Kosmetik, süßem Wein. Die andere Angst, die der Vorleser auf Lesereisen mit sich herumschleppte, hatte eine stark ausgeprägte venerische Tendenz.
    Außerdem hatte der Vorleser nasse Füße bekommen; das Trottoir war voller Löcher und Pfützen. Als er gerade das gefährliche Postamt gegen sein Hotelbett mit Buch sowie weiße Wollsocken eintauschen wollte, welche aus der Zeit stammten, als er noch anständig Tennis spielte – lang war's her –, tauchte die Post, ein geschlossenes altes Postamt, plötzlich auf, vielleicht aber auch nicht, und es wurde bloß von der drohenden
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