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de profundis

de profundis

Titel: de profundis
Autoren: Viktor Jerofejew
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Ljussja nutzte die kleine Verzögerung für einen Fluchtversuch und schlug einen Spaziergang anstelle des Restaurantbesuchs vor. Der Vorleser, durchgefroren im kalten Wind, kämpfte an zwei Fronten: Der Türsteher kapitulierte als Erster – gegen ein Entgelt; Ljussja gestand, noch nie in einem Restaurant gewesen zu sein. Sie zupfte ihre himbeerrosa Strickjacke mit einer riesigen gelben Anstecknadel zurecht, auf der Wange an Wange zwei Frauen mit lockigem Haar sangen. Auch im Restaurant wurde gesungen, eine Tanzcombo dröhnte, der Garderobenmann, der sich wegen Behinderung und Trunksucht kaum auf den Beinen halten konnte, nahm dem Vorleser und Ljussja widerwillig die Mäntel ab – und der Vorleser betrat stolz erhobenen Hauptes mit Ljussja am Arm den Saal; Ljussja hochrot und mit kupferrotem Haar.
    Den Oberkellner fanden sie in der Küche – er saß auf dem erkaltenden Herd und knutschte mit der Köchin.
    »Sehen Sie«, sagte der Oberkellner zum Vorleser und berührte der Anschaulichkeit halber die Herdplatten, »alles kalt. Nichts zu machen, sozusagen …«
    Die Köchin – sie war noch nicht alt und von der Art, dass ihre Kittelknöpfe bei jeder Bewegung in den Knopflöchern knarrten – dachte: Na, da hat er sich vielleicht eine angelacht. Und sie wippte missbilligend mit dem Fuß.
    »Nehmen Sie Huhn Kiew?«, fragte der Oberkellner, der sich keineswegs durch den Vorleser beleidigt fühlte. Die Köchin betrachtete Ljussja mit unverhohlener Verachtung. Die Köchin wollte auf einmal den Vorleser haben und nicht mehr so sehr den Oberkellner. Die Köchin hatte Kinder: ein siebenjähriges Mädchen und einen vierjährigen Jungen. Ihr Mann war durch einen elektrischen Schlag umgekommen. Der Tisch wurde gedeckt; der Vorleser machte Ljussja ein hübsches Kompliment.
    »Na, na!«, sagte Ljussja zweifelnd.
    Ljussja lernte einen medizinischen Beruf und wohnte im Wohnheim, ihre Eltern lebten in einem ganz kleinen Städtchen in der Nähe und hielten offenbar Vieh. Jeder Tanz war der letzte. Füllige aufgekratzte Frauen hatten Männer im Schlepptau, die gegen die Tische rempelten. Die jüngeren Frauen hüpften flott herum, mal das eine, mal das andere Bein nach vorn schleudernd, in der Absicht, den Partner an der Kniescheibe zu treffen. Die ganz Flotten trafen in die Leistengegend, und dabei lachten sie verschlagen. Der Partner versuchte dem Tritt mit einer wellenartigen Bewegung des Oberkörpers auszuweichen und lächelte dabei überhaupt nicht. Die älteren, gesetzteren Frauen hüpften nicht, sondern schwammen eher, den erhitzten Kopf auf die Schulter geneigt. Die älteren und schlankeren Männer gingen manchmal in die Hocke, wobei ihnen eine Haarlocke in die Stirn fiel. Ein Leutnant, Absolvent der Artillerieschule, der im hinteren Teil des Saals seine Hochzeit feierte, tanzte stur zu jeder Musik Walzer.
    »Gehen wir tanzen!« Ljussja hielt es nicht mehr an ihrem Platz, und sie und der Vorleser sprangen ein bisschen herum. Plötzlich passierte etwas: Die Braut rannte zur Tür, die Verwandten ihr nach, mit Krawatte und Minirock, an der Tür wurde geschrien, diskutiert, der Türsteher vom Stuhl gestoßen, und seine Schirmmütze rollte eiernd in den Saal, die Braut kam im rostroten Mantel zurück, den Arm voll Nelken, der junge Artillerist stürzte auf sie zu; ihre Flucht war nur vorgetäuscht, ging nicht weiter als bis zu eifersüchtigen Verdächtigungen ihrer betrunkenen Freundin, aber der Tag war unberechenbar, voller Nervosität; da konnte alles Mögliche passieren.
    »Fünfzehn«, sagte Ljussja und schlug die Augen nieder.
    »Wie alt?«, fragte der Vorleser nach. Die Tanzcombo packte endlich zusammen und verschwand.
    »Sie tanzen sehr gut«, sagte der ganz rot gewordene Vorleser, während er Ljussja Kognak anbot.
    »Ja, das kann ich«, stimmte Ljussja zu und trank argwöhnisch den Kognak aus ihrem Weinglas.
    »In der Literatur«, sagte Ljussja, »liebe ich Puschkin.«
    »Ich auch, ich mag Puschkin auch«, sagte der Vorleser.
    Das Huhn schmeckte, obwohl es eigentlich nicht besonders essbar war.
    »Ljussja, erlauben Sie … Haben Sie einen Hals?«
    »Ziemlich viel«, sagte Ljussja verlegen.
    Was war dann?
    Dem frühlingshaften Matschwetter entsprechend weichte auch die Erzählung auf, Ljussjas Gesicht zerfiel in kleine Stücke und schwamm in den Pfützen, der Vorleser fischte es aus den Pfützen wieder heraus, hielt es fest zwischen den Handflächen, doch das Gesicht rann ihm durch die Finger … Kalte realistische Winde
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