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de profundis

de profundis

Titel: de profundis
Autoren: Viktor Jerofejew
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Schmatz auf die Nase statt auf den Mund. Die Nase war kalt und irgendwie knetgummiartig oder so.
    »Du bist entzückend«, sagte der Vorleser mit nicht sehr überzeugter Stimme.
    »Lass mich gehen, mir ist schlecht!«, flehte ihn Ljussja an und stieß ihn weg. Der Vorleser drückte sie in den Sessel, sie küssend.
    »Meinst du«, der Vorleser wurde auf einmal sauer, »mir geht es gut? Gut, meinst du? Gut, ja?«
    »Lass mich los …«, wehrte sich Ljussja. »Lass mich!«
    »Tu ich nicht«, antwortete der Vorleser finster. »Was hast du eigentlich?«, wunderte er sich. »Was ist los?«
    Ljussja schluckte, zuckte – und kapitulierte. Ein heißer und starker Schwall traf den Vorleser mitten rein, klebte ihm Nase und Augen zu. Der Vorleser erstarrte, Schlimmes ahnend. Er plumpste zu Boden und rieb sich die Augen. Über der Sessellehne hängend, stützte sich Ljussja mit den Händen am Boden ab und sprudelte kollernd wie ein großer Vogel. Würgend stürzte der Vorleser wie der Blitz ins Bad, drehte den Wasserhahn auf und steckte den Kopf darunter. Er schnaubte lange, spuckte aus, wusch sich ab, fluchte. Dann, nachdem er sich mit einem Handtuch richtig abgetrocknet hatte, sah er vorsichtig in den Spiegel.
    Der Spiegel reflektierte absolute Verwirrung der Gesichtszüge. Der Vorleser betrachtete mit Interesse diese erstarrte Maske der Verwirrung – und plötzlich wurde die Maske von einem lautlosen, reinen Gelächter zerrissen.
    »Na, die hab ich beglückt …«, schnaubte der Vorleser, »und wie …«
    Er ging ins Zimmer zurück. Ljussja stützte sich wie zuvor auf die Hände und hatte Angst, sich zu rühren. Der Vorleser machte das Fenster weit auf und trat zu ihr, strahlend vor Freude.
    »Na, na, das kann vorkommen«, sagte er, Ljussja über den Kopf streichelnd. Er half ihr aufzustehen und führte sie ins Bad. Sie konnte kaum gehen, murmelte unverständliche Worte, aber im Bad sagte sie böse und bestimmt:
    »Ich will nicht auf die Miliz!«
    Der Vorleser wischte ihr das Gesicht mit einem kalten nassen Handtuch ab und sagte richtig menschlich zu ihr:
    »Guck mal, Ljussja. Du wäschst dich jetzt, und dann schläfst du. Wir sind beide sehr müde.«
    Sie sah ihn an und begann zu weinen.
    »Hör auf«, kommandierte er. »Ab in die Wanne. Zieh dich aus und steig in die Badewanne.«
    »Hasst du mich sehr?«
    Da sagte der Vorleser viele schöne, zärtliche Worte zu ihr, verließ das Bad und lehnte die Tür hinter sich an. Er zog ein altes, verwaschenes kariertes Hemd aus dem Koffer, knüllte es zusammen und schleuderte es in Richtung Ljussjas Sessel. Er würgte wieder, Schweiß trat ihm auf die Stirn, lief ihm bis zum Kinn herunter, doch der Mut verließ ihn nicht. Er ging ins Bad, um das Hemd auszuwaschen, und Ljussja lächelte ihn gequält aus der Badewanne an.
    »Ich guck ja nicht, ich guck nicht«, brummte er, und wirklich guckte er nicht und sah nichts. Schließlich hatte er das Bett gemacht, einen schönen beigefarbenen Pullover übergezogen, der nach Rasierwasser roch, und sich mit einer Zigarette hingelegt; die Fenster hatte er zuvor geschlossen. Der Vorleser hatte geschnuppert und befunden, dass die Luft ganz in Ordnung war und man schlafen konnte. Er rauchte die Zigarette zu Ende und döste ein.
    Er erwachte durch eine Berührung von Ljussjas Hand. Sie saß in der Dunkelheit auf dem Bettrand und streichelte dem Vorleser übers Haar.
    »Leg dich hin«, lächelte der verschlafene Vorleser sie an, wobei er näher an die Wand rückte, »es ist doch kalt – du wirst dich erkälten.«
    »Und der Dienstreisende kommt nicht?«
    »Dummerchen!«, lächelte der Vorleser. »Den gibt's nur in der Rohfassung.« Sie legte sich hin, den großen Körper an ihn gedrückt.
    »Du bist so gut«, sagte sie, »so gut …«
    Der Vorleser rieb sich verlegen mit dem Finger die Nasenwurzel und dachte darüber nach, ob er zu einer weiteren guten Tat fähig wäre. Doch, entschied er, sich nicht besonders über den Weg trauend, so wird es besser sein, so wird es richtiger sein – ohne kümmerlichen Versuch …
    »Woher hast du eigentlich gewusst, wie ich heiße?«, fragte Ljussja.
    »Dein Vorschlag, zur Post zu kommen, war doch mit Ljussja unterschrieben.«
    »Das war Nataschka, die den Zettel geschrieben hat, und sie hat mir nicht mal was davon gesagt«, sagte Ljussja.
    »Ich habe geglaubt, dass man mich vor der Post verprügeln will«, gestand der Vorleser. Er erzählte von den anderen Zettelchen. Ljussja schlug sich auf die Seite des
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