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de profundis

de profundis

Titel: de profundis
Autoren: Viktor Jerofejew
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Vorlesers und war empört.
    »Das waren unsere Jungs, die haben einfach Blödsinn gemacht, weil ihnen nichts Besseres einfiel. Wir mussten doch zu deiner Lesung, das war Pflicht …«
    »Das habe ich mir gedacht«, sagte der Vorleser.
    »Nataschka ist doch ein Miststück …« Sie schwieg. »Weißt du, uns verbindet ein Geheimnis.«
    »Ein Liebesgeheimnis?«, fragte der Vorleser teilnahmsvoll.
    »Nein, was ganz anderes … Aber sag es niemandem weiter. Versprochen?«
    »Mmh«, nickte der Vorleser.
    »Schwöre!«, sagte Ljussja, sich auf den Ellenbogen stützend. Der Vorleser betrachtete von der Seite und teilnahmslos ihre kleinen Brüste, die nicht zu dem großen Körper passten, und schwor feierlich.
    Da begann sie ihm eine verworrene Geschichte ins Ohr zu flüstern, in der zunächst ein Kinobesuch vorkam, dann war da eine große Ansammlung von Leuten, die alle drängelten und lärmten, und plötzlich löste sich irgendein Mädchen aus der Menge; also, das war sehr schick angezogen, nach der neuesten Mode, und es ging dann irgendwohin, und zwei Schatten schlichen ihm nach, einen Zaun entlang natürlich, immer an einem Zaun entlang, und dann durch die Schlucht; kurzum, sie liefen ihm hinterher, und das Mädchen, das war nicht von hier, eindeutig nicht von hier, es lief schnell, dann schon sehr schnell, dann rannte es, sah sich immer wieder um und drückte die Handtasche mit dem Lippenstift an sich – aber es schaffte es nicht … dann fingen sie an, sich zu prügeln, das Mädchen an den Haaren zu ziehen und runter auf den Boden, runter, und da fängt es an zu schreien …
    Diebinnen, dachte im Traum der Vorleser betrübt, arme Dinger, Diebinnen, Freundinnen, kleine Mädchen …
    Der Traum riss ab.
    »Was?«, fuhr der Vorleser zusammen. »Was hast du gesagt?« Ljussja schwieg und verkroch sich an seinem Hals. »Mit einem Strumpf?«, fragte der Vorleser nach.
    Sie nickte an seiner Schulter.
    »Sie hat Nataschka mit ihren Krallen das ganze Gesicht zerkratzt«, sagte Ljussja, »und mich hat sie hier gebissen und hier auch.«
    »Und wohin habt ihr sie dann …?«
    »Wir sind weggelaufen«, sagte Ljussja. Der Vorleser räusperte sich.
    »Wann war das?«
    »Genau vor meinem Geburtstag …, im Oktober …, am sechzehnten Oktober.«
    Der Vorleser setzte sich aufs Bett und sah Ljussja benommen an. Ihr Gesicht war aufgelebt, und nun lebte es durch Angst, Verfolgung, das Geständnis. Der Vorleser sah mit Respekt die Wangenknochen und die Nase und die Schlucht … Alles bekam einen Sinn.
    »Wieso haben sie euch nicht geschnappt?«, staunte er zaghaft. Ljussja schwieg.
    »Sag es bloß niemandem«, sagte sie schließlich.
    »Wo denkst du hin!«, erschrak der Vorleser. Er hob die Hand und berührte nach kurzem Zögern vorsichtig ihr kupfernes, strohiges Haar. Die Angst verschwand aus ihrem Gesicht. Der Vorleser zog seinen schönen beigefarbenen Pullover aus, der nach Rasierwasser roch, und umarmte sie … Plötzlich atmeten sie ungeduldig, unregelmäßig einander ins Gesicht.
    »Wird es sehr wehtun?«, fragte Ljussja, atmete und wurde rosig. »Nicht sehr? Nur ein ganz kleines bisschen, ja?«
    »Du – deine Beine, die Beine, warte … So, ja, die Beine …!«, sagte der Vorleser nervös, der sich bereits nicht mehr unter Kontrolle hatte.
    »Blut«, sagte Ljussja, die ihre Finger ansah. »Das soll Blut sein?«, stammelte der Vorleser verzückt. »Liebes, alles wird gut, alles … Nur die Beine, Ljussenka, die Beine, ich bitte dich: etwas höher, die Beine!«

Einer zu viel
    Eine Königin, bei Gott, eine Königin. Boris betrachtete von der Seite das stolze Profil und den Hals seiner Begleiterin, und leise regte sich sogar etwas in der Leistengegend.
    »Gehen wir zum Felsen rüber«, schlug Boris vor. »Da bei der Kirche ist das Grab einer jungen Fürstin.«
    Mit schnellen, entschlossenen Schritten liefen sie zum Felsen. Sonnenflecken hüpften über den nassen Asphalt. Es war später April. Es war heiß. Gleb machte seinen Mantel auf. Groß, mager, langbeinig, mit schmaler Brust, war er ganz Energie, ganz Bewegung.
    Ich glaube, ich verliebe mich, dachte Boris. Am Grab der Fürstin sagte er:
    »Sehen Sie nur, was für eine Biegung da unten. Wie ein gespannter Bogen. Und weiter hinten Flusswiesen, Flusswiesen, so weit das Auge reicht. Da bekommt man große Lust, einfach abzuheben und loszufliegen.«
    Marina sah ihn mit ihren grauen Augen verständnisvoll an.
    »Also, was stehen wir noch da?«, rief Boris. »Fliegen wir?«
    »Ja«,
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