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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht
Autoren: Kai Meyer
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sich selbst zu sehen, ganz gleich in welchem Zustand. Keine Doppelbelichtung m ehr, die ihr Gesicht unter das von Jula schob.
    Nur noch sie selbst.
    In der Fer n e erhob ei n e Sirene die Stim m e und brüllte heulend ihren Alar m ruf i n die Nacht.
      
      
      
     
    Achtundzwanzig
     

    Chiara und Nette sahen zu, wie Arbeiter das Erdreich zurück in die Grube schaufelten, erst begleitet von hohlem Prasseln, dann fast geräuschlos, als Erde nur noch auf Erde fiel.
    Sie wart e t en nicht, b i s d as Grab vollständig g e f üllt w a r. Chiara ließ ihren Blick e i n l e tztes M al über den Grabstein ihres Vaters wandern, über die gravierten Buchstaben, die Daten, die latei n ische I nschri f t. Die Arbeiter hatten d en Stein gestern abgestützt, da m it er n i cht in das geöffnete Grab kippte, während sie den Sarg heraushoben. Chiara war erstaunt gewesen, dass er nach all den Monaten keine Spuren von Zersetzung zeigte. Der Bestatter, der bei der Exhu m i erung anwesend war, hatte ihr nicht ohne Stolz erklärt, dass es Jahrzehnte dauern könne, bis ein Sarg vollständig zerfiel, je nach B e schaffenheit des Holzes und des Bodens. Ein knappes Jahr jede nf alls kr a t ze nicht m al am Lack. N i cht bei seinen Särgen.
    »Lass uns gehen«, sagte sie zu Nette.
    Nette nickte. Sie hatte sich die Haare kurz schneiden lassen, schon vor zwei Wochen, gleich nach Chiaras Rückkehr aus Berlin. Nette hatte sich in den Kopf gesetzt, Veränderungen in ihrem Leben durch Wandlungen ihres Äußeren zu reflektieren. Sie hatte viel gelesen in den vergangenen Monaten, und ihre Rechtschreibung war nahezu perfekt; sie hasste es, wenn Chiara sie mit dem Zettel aufzog, den sie ihr damals in die Pension geschickt hatte. Nette trug jetzt nur noch Hosen, als stünden Röcke für einen Teil ihres früheren Lebens, den sie gemeinsam mit ihren alten Kleidern abgelegt hatte. Sie kam bemerkenswert gut mit der Vergangenheit zurecht, viel besser als Chiara. Aber manchmal war Nettes Stärke fast ansteckend, genau wie ihr Humor, ihre Begeisterungsfähigkeit.
    Sie verließen den Friedhof durch eine Allee kahler Bäume. Es hatte geschneit, eine hauchdünne Schicht, die liegen blieb und die Stadt und die Hügel in ihrer Umgebung puderte. Die Albrechtsburg und der Dom, die sich auf dem Hügel über Meißens Altstadt aneinander drängten, sahen aus wie eine Steintorte mit weißem Zuckerguss.
    Es hatte drei Tage gedauert und ein hübsches Bestechungsgeld gekostet, ihren Vater ohne polizeiliche Verfügung exhumieren zu lassen. Irgendwer hatte schließlich ein Papier gefälscht, das ungelesen in irgendwelchen Ordnern verschwand. Damit war der Weg frei.
    Sie stand dabei, als der Sarg d eckel geöffnet wurde. Nette hatte darauf bestanden, ebenfalls zuzuschauen. Es gab nichts, das sie erschüttern konnte, jetzt nicht m ehr. Sie wusste Bes c heid, Chi a ra hatte i h r alles er z ählt. Nette hatte nicht versucht, ihr irgendetwas auszureden.
    Der Bestatter öffnete den Deckel höchstpersönlich. E r fühlte sich in seiner E hre gekränkt und versuchte, die Sache heru n t erzus p ielen – trotz d em ent g ing k e inem von ihnen der R i ss an der Innense i te des Sargdec k els, als d er Mann ihn nach oben klappte.
    Chiara hätte sich die Beste c hung des Mediziners sparen können.
    Jeder Laie konnte die Veränderung erkennen.
     
     
    *
    Die Zeitungen waren voll von den Vorgängen in Berlin. Auf einer Yacht, die offenbar aus I n dien nach Deutsc h l and gekommen war, hatte man drei Personen gefunden, die m it der Pest infiziert waren. Ein Mann, eine Frau und ein Kind. N a men wurden keine genannt. Kom m entatoren ver m uteten, dass es sich um eine wohlhabende indische Fa m ilie h a ndelte, die illeg a l n a ch Europa übersie d eln wollte.
    Pest! Das Wort loderte durch di e Presse wie ein Feuerstur m . In Archiven und Museen wurden alten Holzschnitte ange f orde r t, die bald auf allen Titelseiten prangten: D er Schwarze Tod als dämonisches Gerippe, das m it seiner Sense Felder aus Mensc h enlei b ern nieder m ähte. Alfred Kubin verzeichnete e i ne ra s ante Nachfrage nach Einzel b l ättern seines T u schezyklus Totentanz, den er vier Jahre zuvor angefertigt hatte und der nun von einigen als düstere P rophetie gefeiert wurde.
    Die Mannschaft des Schiff e s, allesa m t dänisc h e Staatsangehörige, wurden nach eingehender Untersuchung und negativer Diagnose in ihre Hei m at geschickt. Die drei Infizierten aber ließ m an in die Quarantä n estation der
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