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Das zweite Gesicht

Titel: Das zweite Gesicht
Autoren: Kai Meyer
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wippte. Sein Gesicht war m it Blut besch m iert, ebenso seine weiße Leinenkleidung. Seine Miene war verschlossen wie immer; abgesehen von d e m Blut ließ nichts darauf schließen, d ass er d i esen Platz in den letzten Stunden verlassen hatte. Gedankenlos schob er einen F i nger in den Mund w i e ein Kleinkind – nicht den Dau m en, sondern den Zeige f inger. Er saugte Maskens Blut unter dem Fingernagel h e rvor, so geistesabwesend, als lauschte er gerade einer Gutenachtgeschichte.
    Als Nächstes streifte der Lichtschein den reglosen Masken, der weiter oben im Bett lag, halb über der Kante, einen Fuß am Boden. Sch m ale, knöcherne Hände – nicht seine eigenen – strichen üb e r s einen h alb e ntblößten
    Oberkörper, glitzernd feucht von einer Flüssigkeit, die wie Honig aussah. Die Hände m assierten d as Sekret in Maskens offene W unden, m it Bewegungen, die fast liebevoll wirkten. Sie gehörten einer Gestalt, die hinter Masken im Bett lag, halb versteckt hinter f l eckigen Decken. Ihre dunkles Haar verbarg ihr Gesicht wie ein Vorhang, die Strähnen bebten leicht bei jedem röchelnden Ate m zug.
    Der Junge kicherte. Die La m pe ging aus.
    »Geh jetzt«, sagte Jula. »Leb wohl.«
    Und Chiara ging. W ortlos tas t ete sie nach dem Schlüss e l auf der Innenseite der Kabinentür, zog ihn heraus und schloss damit von außen ab. Vielleicht konnte der Junge die Tür aufbrec h en, aber das hi elt sie für unwahrscheinlich.
    Sie brauchte lange, ehe sie im Dunkeln die Außentür zum Deck erreichte. Die frisc h e Luft tat gut, vertrieb zwar nicht d i e h ö lli s chen K o p f sch m erzen, ließ s i e a b er wied e r frei at m en.
    Später wus s te sie nic h t m ehr, wie lange s i e gebrauc h t hatte, bis sie am fernen Ende des Kais das Büro der Hafenwache erreic h t e. Bei Nac h t saß dort nur ein einziger Mann, schlief friedlich in seinem Sessel, und er wirkte alles andere als erfre u t, a l s s i e zur Tür her e inwankte u n d ihn weckte. Sie m üsse tele f onieren, sagte sie, und nach einem Blick auf das Blut auf ihrer Kleidung ließ er sie gewähren. Sie behielt ihn im Auge, während sie sich von der Ver m ittlung m it Henriette Hege n barth verbi n den ließ.
    Die Kolumnistin war so f ort hellwach, als sie ih r e Stim m e erkannte. Chi ar a li e ß sie nicht zu W ort kommen. Sie erzählte ihr m it brüchiger Sti mm e von der Yacht und wo sie sich befand; sie gab ihr den Rat, so schnell wie
    möglich herzukommen, denn in ein paar Minuten würde hier die Hölle los sein. Masken kö n ne ihr j e tzt n i chts m ehr tun, sie m üsse ihn nicht m ehr fürchten. Dann legte Chiara auf.
    Der Hafenwächter starrte s i e ungläubig an, als sie ihm erklärte, auf einem Schiff, d a s aus Indien käme, sei die Pest ausge b rochen. Er solle so sch n ell wie m öglich alles Nötige veranlassen. Drei Personen seien an Bord, alle drei in f i zi e rt. N e in, sie selb s t sei n i cht m it ihnen in Kontakt gekommen. Trotzdem warf er panische Blicke auf den Telefonhörer, den sie in der H a nd gehalten hatte, was ihr im m erhin best ä tigte, d a ss er i h re Geschichte nicht als Hirngespin s t abtat. Zul e tzt nannte si e ihm eine Adresse in der Innenstadt und wartete, bis er sie niedergeschrieben hatte. In dem Restaurant sei einer der Infizierten essen gewesen, das wisse sie ganz genau. Die Polizei täte gut daran, einen Blick dort hinei n zuwerfen, vor allem in die Hinterzimmer.
    Sie fragte sich, ob der Mann sie erkannte. Aber wer würde ihm wohl glauben, wenn er später erzählte, Chiara Mondschein sei blutüberstr ö m t in seinen Verschlag gestolpert?
    Dann ließ sie ihn zurück, im Vertrauen auf seine Gewissenhaftigkeit. Spätestens in einer halben Stunde würde das gesa m t e Gebiet rund um den Yachthafen unter Quarantäne stehen.
    Sie würde sich irgendwo waschen müssen.
    Hu m pelnd schleppte sie sich durch die Dunkelheit, aber ihre Gedanken waren schon nicht m ehr bei der Vergangenheit, nicht bei J u la oder Masken, sondern tasteten sich zögernd in die Zukunft, zur Küste, zu Helligkeit und eiskaltem Seew i nd, zu einem Haus hinter den Dünen, zu Stille u nd Frieden – und zu Nette, falls
    diese dort a u f sie wartete.
    Chiara sah ihr Spiegelbild in einer F ensterscheibe, an der sie vorüberka m , halbverblasst, als löse sie sich gerade in Luft auf. Aber daran trug nur das schwache Licht die Schuld. Sie erschrak nicht über ihren Anblick, trotz ihrer erbär m lichen Verfassung.
    Es war ein gutes Gefühl, nur noch
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