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Das Wunder von Bern - Fußball spielt Geschichte

Das Wunder von Bern - Fußball spielt Geschichte

Titel: Das Wunder von Bern - Fußball spielt Geschichte
Autoren: Peter Kasza
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Fußball Geschichte.

11 | Nach dem Spiel
    Dass es mehr war als ein Fußballspiel, hat man anfangs gar nicht gemerkt. Die Menschen haben sich einfach gefreut. Als wir zurückgefahren sind, haben wir an jedem Bahnhof gehalten. Tausende Menschen standen dort. Das war einmalig. Da sind einem schon bald die Tränen gekommen. Es war wirklich überwältigend, umwerfend
.
    Alfred Pfaff in der Erinnerung an den Sieg der deutschen Mannschaft
    Eigentlich hätte alles ganz anders kommen müssen. Kurz vor dem Schlusspfiff versenkte Ferenc Puskás den Ball im deutschen Kasten, Schiedsrichter Ling zeigte auf den Anstoßpunkt, die Ungarn jubelten, die Deutschen schluckten. »Aber dann hat dieser Linienrichter, Griffith hieß er, mit der Fahne gewedelt, als ob wir bei einer 1. Mai-Kundgebung wären.« Zur Veranschaulichung wedelt auch Jenő Buzánszky auf dem Stuhl sitzend wild mit einer imaginären Fahne. Der Referee konnte das nicht übersehen – und er entschied sich um: Statt Anstoß gab es Freistoß für Deutschland. Puskás rannte zum Linienrichter Griffith, warf ihm einen bösen Blick zu – und es blieb beim 3:2.
    Alfred Pfaff sagt heute: »Von meiner Warte aus gesehen war es ein einwandfreies Tor.«
    Kein Abseits?
    Â»Nein, kein Abseits.« Auch neu aufgetauchte Filmaufnahmen, geschossen von der Tribüne aus, auf gleicher Höhe mit dem Spieler, zeigen: Puskás stand nicht im Abseits. Wenn man dem ungarischen Historiker und Journalisten Paul Lendvai erzählt, dass es tatsächlich Filmaufnahmen gibt, die beweisen, dass es ein reguläres Tor war, dann fragt er dreimal nach, ob man denn sicher sei, und als man bejaht, ruft er ins Telefon: »Ha! Dann ist uns der Sieg doch gestohlen worden«, und man würde zu gerne wissen, ob er am anderen Ende der Leitung schmunzelt oder nicht. Und was wäre wenn …? 3:3? Verlängerung? »Dann hätten wir vielleicht wieder verloren«, sagt Alfred Pfaff und fügt beschwörend hinzu: »Das ist aber nicht so gekommen.« Und wenn es doch so gekommen wäre?
    Als »knapp« hätten sie den Ausgang in Ungarn bezeichnet, aber sie hätten gewonnen, und nur das hätte gezählt. Die ungarische Mannschaft wäre auf dem Höhepunkt ihres Ruhmes gewesen. Die Ausschreitungen wären der Partei erspart geblieben, stattdessen hätte es eine Jubelveranstaltung gegeben, bei der die Parteibonzen einträchtig neben ihrem Volk gestanden hätten, als gehörten sie zusammen. Statt Verlierer wären die Spieler Helden gewesen. Hinter dem Népstadion hätte man sie überlebensgroß verewigt und dort würden sie wohl heute noch stehen. Doch trotz Sieg wäre Siebenbürgen nicht zurück ins ungarische Mutterland gekommen, trotz Sieg wäre der Konflikt innerhalb der Partei eskaliert und trotz Sieg hätte es einen Volksaufstand gegeben – und trotz Sieg wäre die Mannschaft schließlich zerbrochen.
    In Deutschland wären die offiziellen Empfänge ausgefallen. Die Enttäuschung hätte sich aber in Grenzen gehalten, war doch genau das passiert, was man ohnehin erwartet hatte. Das Wirtschaftswunder hätte trotz Niederlage stattgefunden, West-Deutschland wäre souverän geworden, die Kriegsgefangenen wären trotz Niederlage nach Hause gekommen, ebenso wie das Saarland – und die Mannschaft von Bern hätte erst recht nicht mehr in der gleichen Besetzung zusammengespielt.

    Triumphzug der »Helden von Bern« durch Kaiserslautern. (Deutsches Historisches Museum)
    Doch was gefehlt hätte, wären Stückchen im Gesamtpuzzle, wichtige Anteile der Volkspsyche beider Nationen. Im Fußball fanden sich immer schon ganze Nationen, sie verloren und sie gewannen zusammen. Die Erwartungen vor dem Endspiel waren klar. Die Ungarn rechneten fest damit zu gewinnen. Die Deutschen rechneten fest damit zu verlieren. Nur weil es anders kam als erwartet, waren die Reaktionen von Frust und Freude derart extrem. Doch hinter diesen Gefühlsausbrüchen steckte mehr, der Ausgang des Spieles diente als Anstoß. In Ungarn kam eine lang angestaute Unzufriedenheit des Volkes zum Ausbruch, in Deutschland artikulierte man erstmals ein unterschwellig vorhandenes, aber sehr unsicheres Nationalgefühl. Ein Nationalgefühl, das sowohl den Westdeutschen ihre Republik näher brachte, als auch gesamtdeutsch empfunden wurde. Dieses Gefühl blieb lange abstrakt, bis 1990,
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