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Das Wolkenvolk 03 - Drache und Diamant

Das Wolkenvolk 03 - Drache und Diamant

Titel: Das Wolkenvolk 03 - Drache und Diamant
Autoren: Kai Meyer
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Umstand, dass das grobe Leinen seines Gewandes heller reflektierte als blanker Stahl, machte den Anblick noch unwirklicher.
    Alessia befand sich jetzt genau hinter dem Schattendeuter, fünf oder sechs Meter entfernt. Rechts von ihr erhob sich die Wand des zerstörten Haupthauses, in ihrem Rücken lag der Abgrund.
    Carpi hatte versucht sie zu töten. Er hatte den Pumpeninspekteur Sandro Mirandola vor ihren Augen ermordet. Und sie glaubte fest daran, dass er eine Mitschuld am Absturz der Wolkeninsel trug. Er war ein Verräter, der den Tod verdient hatte. Und obgleich ihre Hand zitterte und ihr Herz zum Zerspringen hämmerte, war sie die Einzige, die verhindern konnte, dass er weitere Verbrechen beging.
    Noch ein Schritt. Und noch einer. Ihr Bein tat wieder höllisch weh und ihr war klar, dass sie es nicht auf einen Kampf ankommen lassen durfte. Sie musste ihn erledigen, solange er wehrlos war, gefangen in dieser gespenstischen Trance, gebadet in Mondlicht, das ... irgendetwas mit ihm tat.
    Dann stand sie hinter ihm, hob die Klinge hoch über ihren Kopf, die Spitze auf seinen Rücken gerichtet -  und konnte es nicht.
    Er war einen guten Kopf größer als sie. Sie hätte den Dolch genau zwischen seine Schulterblätter treiben können.
    Stattdessen aber stand sie da, die Waffe erhoben, und starrte auf seinen Rücken, der eigentlich im Schatten hätte liegen müssen und dennoch leuchtete, so als strahlte das Mondlicht geradewegs durch ihn hindurch. Als setzte es jede Faser seinen Körpers in weiße, kalte Flammen.
    Sie konnte ihn nicht hinterrücks ermorden. Sie hatte zwei Felsenwesen getötet, weil sie ihr keine andere Wahl gelassen hatten. Aber Oddantonio Carpi war in diesem Augenblick wehrlos. Was immer er auch getan hatte - sie war keine Mörderin. Nicht einmal dann, wenn ihr Opfer den Tod verdient hatte.
    Carpi bewegte sich. Kein benommenes Vor- und Zurückwiegen mehr, sondern ein Strecken seiner Glieder, dann ein Neigen seines Schädels nach vorn und nach hinten, als müsste er seine Muskeln lockern. Zugleich ließ der durchdringende Lichtschein nach. Schatten krochen an seinem Rücken empor, sein Mantel färbte sich wieder schwarz. Der Mond am Himmel, gleich neben dem Berggipfel, blieb hell und weiß, aber der eine ganz besondere Strahl, mit dem er den Schattendeuter berührt hatte, war erloschen.
    Alessia huschte rückwärts durch den Eingang des Hauses. Noch in der Bewegung wurde ihr bewusst, dass es sinnlos war, sich zu verstecken. Er würde das Pferd sehen, nur wenige Meter entfernt. Er würde wissen, wem es gehörte. Und dass sie hier war. Ganz allein im Dunkeln. Verletzt.
    Aber es war zu spät, um zu fliehen. Sie presste sich mit dem Rücken in den Schatten, blickte angespannt zurück zum Eingang. Carpis Kleidung raschelte, als er sich in Bewegung setzte. Ein leises Stöhnen erklang, wie von jemandem, der gerade erst erwacht war.
    Die Finsternis in der Ruine war nur auf den ersten Blick vollkommen. Schon nach wenigen Sekunden gewöhnten sich Alessias Augen daran. Sie sah die aufgerissene Seite des Gebäudes keine zehn Schritt entfernt. Das ausgefranste Loch wies hinaus in die Nacht, geradewegs in den Abgrund. Mit seinem gezahnten, gesplitterten Holzrand erweckte es den Eindruck eines riesenhaften Mauls. Darin flatterten die Bücher umher, auf und ab, kreuz und quer durcheinander.
    Alessia starrte nach draußen und fühlte sich eingesperrter denn je. Sie war ihr Leben lang eine Gefangene gewesen - eine Gefangene ihrer Abstammung und ihrer Zukunft als Herzogin, eine Gefangene der Wolkeninsel, zuletzt eine Gefangene der Aetherpumpe -, aber dies hier war beängstigender als alles zuvor. Der Schattendeuter würde denselben Fehler nicht zweimal begehen. Sie einzuschließen und sich selbst zu überlassen hatte nicht funktioniert.
    Diesmal würde er sie kurzerhand in die Tiefe werfen, ohne dass je ein Verdacht auf ihn fiele.
    Sie hätte ihn doch umbringen sollen. Sie war eine Närrin gewesen.
    Carpi erschien im Eingang. Seine Silhouette verfinsterte den Ausschnitt der mondhellen Landschaft.
    Schweigend blieb er stehen und starrte herein zu ihr ins Dunkel.

Am Abgrund
    Die heftigen Winde, die aus der Tiefe in die Ruine stürmten, erfassten nicht nur die Bücher, sondern auch Alessi-as rotes Haar und das Gewand des Schattendeuters.
    »Ich weiß, dass du hier bist«, sagte er.
    Sie zog sich tiefer in die Finsternis zurück und tastete nach einer Stelle, an der sie ihr verletztes Bein aufstützen konnte. Sie brauchte
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