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Das Wolkenvolk 03 - Drache und Diamant

Das Wolkenvolk 03 - Drache und Diamant

Titel: Das Wolkenvolk 03 - Drache und Diamant
Autoren: Kai Meyer
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einen festen Stand, falls der Schattendeuter näher kam.
    Es gab zwei Fenster, eines ganz in ihrer Nähe, ein anderes auf der gegenüberliegenden Seite. Das Erdgeschoss bildete einen einzigen Raum, in dem zerstörte Regale, eingestürzte Büchertürme und umgefallene Möbel eine gefährliche Trümmerlandschaft bildeten. Ihm hier im Dunkeln zu entkommen war für Alessia so gut wie unmöglich.
    Aber noch hatte Carpi sie nicht gesehen. Er zog sich wieder ins Freie zurück, wahrscheinlich um die Öllampe zu holen. Ein paar Sekunden später hörte sie den Metallhenkel knirschen.
    Sie eilte vorwärts, so gut das mit ihrer Beinwunde ging, an der Tür vorbei und auf den Abgrund zu. Bücher umschwärmten sie, harte Kanten streiften ihre Schultern und Schläfen. So weit vorne am Rand lief sie Gefahr, von den  Winden gepackt und in die Tiefe gerissen zu werden. Aber sie musste das Risiko eingehen. Sie war viel leichter als Carpi und sie spekulierte darauf, dass er nicht wagen würde ihr auf den morschen Holzboden zu folgen. Dieser Teil der Ruine ragte über den Abgrund hinaus, unter den Dielen war nichts als gähnende Leere.
    Der Schattendeuter kehrte mit der Lampe zurück, leuchtete erst in den vorderen, dunklen Teil des Raumes, wandte sich dann dem zerstörten Ende zu. Er hätte kein Licht benötigt, um Alessias Umriss vor dem sterngesprenkelten, bücherumtosten Schlund zu entdecken.
    »Da bist du.« Er klang weder überrascht noch erregt. Seine Ruhe war beängstigender als jeder Wutausbruch.
    »Bleib, wo du bist!«, rief sie zurück. Nicht allzu beeindruckend, gestand sie sich ein. Nicht wenn man eindeutig die Schwächere, Verletztere, Unterlegene ist.
    »Tut dein Bein sehr weh?«, fragte er mit geheuchelter Freundlichkeit.
    Ein Buch wurde vom Sturm in ihren Rücken geschleudert und hätte sie beinahe stolpern lassen. Ein anderes zischte an ihrem Ohr vorüber, krachte gegen die Wand und fiel neben ihr zu Boden. Aufgeschlagen blieb es liegen, während der Wind die Seiten durchstöberte wie ein unsichtbarer, geisterhafter Leser.
    Carpi kam näher. Er befand sich jetzt in der Mitte des Hauses, noch auf festem Boden, während Alessia auf ihrem einen gesunden Bein so nah am Abgrund balancierte, dass selbst ein Gedanke zu viel sie ins Nichts zu schleudern drohte. Mit der linken Hand hielt sie sich an einem vorstehenden Holzbalken fest, einem Überrest der Rückwand.
    Unter den Füßen des Schattendeuters knarrte der Boden. Er blieb stehen und hob die Öllampe ans Gesicht. Auf unheimliche Weise kam er Alessia jünger vor als bei ihrer letzten Begegnung, so als hätte das Mondlicht die Falten von seinen hageren Zügen radiert. Er wirkte ausgeschlafen und kraftvoll. Aus seiner Stimme sprach unerschütterliches Selbstvertrauen.
    »Ich bin ein Auserwählter des Aethers«, sagte er. »Ihr werdet sterben und ich werde leben. So ist es vorherbestimmt. «
    Zwei Einfälle kamen ihr. Der erste: Ich könnte den Dolch auf ihn schleudern. Nur dass sie damit keine Erfahrung hatte und wahrscheinlich alles Mögliche getroffen hätte, nur nicht ihn. Und der zweite: Ich könnte um den Rand der Außenwand klettern und draußen vor ihm davonlaufen. Nur dass sie mit ihrem Bein weder besonders gut klettern noch schnell genug rennen konnte.
    Die Wahrheit war: Sie konnte überhaupt nichts tun, nur dastehen und abwarten.
    »Du sitzt in der Falle«, stellte er folgerichtig fest. »Und nun wirst du sterben.«
    Unter ihr geriet der Boden ins Schwanken. Das ganze Haus neigte sich merklich dem Abgrund zu wie eine Wippe.
    »Ich glaube nicht«, sagte sie und stieß einen Pfiff aus.
    Ihr Pferd schob den Kopf durch die Tür. Der Hengst war stark genug, um einen Reiter zu tragen, der viermal so viel wog wie Alessia. Seine Brust war gewaltig, viel zu breit, um ins Haus zu kommen. So breit, dass sie den Weg nach draußen versperrte wie ein Felsblock.
    »Steh!«, befahl Alessia dem Tier.
    Der Schattendeuter knurrte einen Fluch.
    »Sieht aus«, sagte sie, »als säßen wir alle beide in der Falle.« Ihre Hand klammerte sich noch fester an den Balken, damit sie auf dem abschüssigen Boden nicht nach hinten fiel. Sie hatte eine Heidenangst, dass das Haus jeden Moment aus seiner Verankerung reißen und in die Tiefe stürzen könnte. Der Erdboden lag zweitausend Meter unter ihnen. Die Vorstellung, dass auch ihr Erzfeind sterben würde, bot wenig Trost - noch so ein Schwindel, den einem die Geschichten in den verbotenen Büchern oft weismachen wollten.
    Carpi ging auf das
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