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Das Wolkenvolk 03 - Drache und Diamant

Das Wolkenvolk 03 - Drache und Diamant

Titel: Das Wolkenvolk 03 - Drache und Diamant
Autoren: Kai Meyer
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Der Wind war stärker geworden und würde womöglich bald zum Sturm. Normalerweise bedeutet dies, dass die Wolkeninsel durchgeschüttelt und von den Winden kreuz und quer über das Land geweht wurde. Stattdessen aber hielt sie seit Tagen einen stabilen Kurs nach Nordwesten, während in der Ferne die Felsgipfel eines mächtigen Gebirges vorüberzogen. Nicht einmal das weckte das Misstrauen ihres Vaters und der Priesterschaft - der Zeitwind wisse schon, wohin er die Insel führe, behaupteten sie. Alles sei vorherbestimmt, alles sei Schicksal. Alessia hätte schreien mögen vor Wut.
    Als sie im Dunkeln am Fuß des Berges ankam, hatte sich der Schmerz in ihrem Bein ein wenig beruhigt und pulsierte gleichmäßig vor sich hin. Die ersten Sterne glitzerten am Himmel. Und da war noch ein anderer Lichtpunkt, nicht weit entfernt - eine schwankende Öllampe. Alessia hatte sie schon vom Hang aus entdeckt, aber da hatte sie noch geglaubt, dass es einer der Bauern wäre, der sich auf dem Heimweg zu einem der abgelegenen Höfe befand. Jetzt erkannte sie, dass sie sich geirrt hatte.
    Direkt vor ihr, mittlerweile unsichtbar in der Nacht, lag der Hof der Spinis. Niccolo hatte dort gelebt, zuletzt ganz allein, nachdem sein Vater vom Wolkenrand in die Tiefe gestürzt war. »Nachdem ihn der Zeitwind geholt hat«, hatten die Priester behauptet.
    Mit einem Mal erlosch das einsame Licht in der Dunkelheit. Wer immer es trug, hatte die Flamme entweder erstickt oder war in einem der Gebäude verschwunden. Wer aber geisterte bei Nacht auf dem verlassenen Gehöft der Spinis umher?
    Sie wusste, dass der alte Emilio Niccolos Vieh auf seinen eigenen Hof gebracht hatte und es dort versorgte. Emilio war über siebzig und hatte nicht an den Kämpfen gegen die Felsenwesen teilgenommen. Ganz sicher hatte er auch heute Nacht Besseres zu tun, als in der Finsternis über den Spinihof zu schleichen.
    Der weiche Wolkenboden dämpfte den Hufschlag ihres Pferdes, aber sie war unsicher, ob er vom Hof aus nicht trotzdem zu hören war. Der Wind wehte tückisch und mochte Laute in ungeahnte Richtungen tragen. Andererseits übertönte sein Säuseln und Fauchen vieles, und so beschloss sie nach kurzem Zögern, so nah wie nur möglich heranzureiten.
    Noch immer erkannte sie nur eine schwarze Masse irgendwo vor sich. Das mussten das Haupthaus und der einzelne Schuppen sein.
    Während sie mit klopfendem Herzen nach Hinweisen auf einen weiteren Menschen suchte, kroch der Mond hinter den Wolkenbergen hervor. Ein mattgrauer Schein schob sich über die Wolkenlandschaft und traf auf das kleine Gehöft.
    Alessia zügelte abrupt ihr Pferd. Nur ein schmales Stück des aufgehenden Mondes lugte hinter dem Gipfel hervor, aber sein Licht reichte aus, um ihr einen gehörigen Schrecken einzujagen. Nicht weil dort vorn etwas war -vielmehr wegen dem, was nicht mehr da war.
    Der Hof der Spinis hatte immer nah am Rand der Wolkeninsel gestanden, gerade einmal einen kräftigen Steinwurf vom Abgrund entfernt. Jetzt aber ragte er wie eine klobige Galionsfigur geradewegs in die Leere hinaus.
    Nachdem die Aetherpumpen zeitweise ihre Arbeit eingestellt hatten, hatten sich Teile der Insel vom Rand her aufgelöst. Während der Wochen, die sie verkeilt zwischen drei Felsgiganten gehangen hatte, war sie mit jedem Tag ein wenig tiefer gerutscht, auf den Erdboden zu, und hatte dabei eine Spur aus Wolkenfetzen an den Granithängen zurückgelassen. An den meisten Stellen der Randregion fiel das heute nicht weiter auf, weil sie unbewohnt waren und kaum jemand dorthin ging. Hier aber, am Einsiedlerhof der Spinis, zeigte sich das ganze Ausmaß der Katastrophe.
    Das Wolkenland zwischen Hof und Rand hatte sich aufgelöst. Der Dielenboden des hölzernen Haupthauses ragte zu einem guten Drittel über den Abgrund hinaus; es fehlte nicht viel und das Gebäude würde über den Rand kippen. Schon jetzt kam es Alessia vor, als hätte es sich leicht der Tiefe zugeneigt, so als zögere es noch damit, sich endgültig hinabzustürzen.
    Während sie das Pferd in einem Bogen um das Anwesen lenkte und sich dem Haus nun von der Seite näherte, erkannte sie, dass der Schaden größer war, als sie vermutet hatte. Die Wand, die dem Abgrund zugewandt war, existierte nicht mehr. Sie war mitsamt einem Teil des Dachs fortgerissen worden, wahrscheinlich von einem Felsvorsprung. Auch der Boden sah ausgefranst und zersplittert aus.
    Sie hörte ein Flattern wie von gefiederten Schwingen. Zugleich entdeckte sie mehrere dunkle
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