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Das Wolkenvolk 03 - Drache und Diamant

Das Wolkenvolk 03 - Drache und Diamant

Titel: Das Wolkenvolk 03 - Drache und Diamant
Autoren: Kai Meyer
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den Gipfeln der fünf wattigen Wolkenberge saugten die Aetherpum-pen das Lebenselixier des Eilands aus den Regionen jenseits des Himmels. Nur wer sein Ohr fest an das Metall ihrer Außenhaut legte, hörte ihr leises Stampfen. Ein elektrisierendes Kribbeln übertrug sich von der Pumpe auf die Haut, nicht schmerzhaft, nicht einmal unangenehm, aber doch ungewohnt und rätselhaft genug, um die meisten zurückschrecken zu lassen.
    Alessia hatte die Eisenhaut der Türme immer für glatt und makellos gehalten, bis sie dem Schattendeuter vor einigen Tagen heimlich durch den Zugang ins Innere gefolgt war. Heute aber war die Tür wieder verschlossen, und wer von ihrer Existenz nichts ahnte, hätte sie niemals bemerkt.
    Das Schlüsselloch war gut getarnt und wurde nur sichtbar, wenn man mit einem spitzen Gegenstand fest auf die richtige Stelle drückte.
    Einmal mehr hob Alessia ihren Dolch und stocherte in der winzigen Öffnung herum. Sie versuchte nun schon seit Stunden die Tür aufzubekommen. Langsam musste sie einsehen, dass es zwecklos war. Ohne den Schlüssel würde sie hier niemals hineinkommen.
    Fluchend schob sie die Klinge zurück unter ihren Mantel. Es war eine lange, schmale Waffe, beinahe ein Stilett, die sie aus der herzoglichen Waffenkammer entwendet hatte. Niemand hatte etwas bemerkt. Ihr Vater, der Herzog, verbrachte jede Stunde des Tages - und einen Großteil der Nächte - damit, Sitzungen des Rates zu leiten. Er und alle anderen waren viel zu sehr damit beschäftigt, den Schattendeuter zu feiern, den Retter des Wolkenvolks, den Herrn über den Aether, wie sie ihn jetzt nannten.
    Alessia wurde übel bei dem Gedanken. Sie war die Einzige, die die Wahrheit kannte - und niemand hörte ihr zu, nicht einmal ihr Vater. Herr über den Aether, von wegen. Oddantonio Carpi, der Schattendeuter des Wolkenvolks, diente dem Aether wie ein Sklave. Aus feinem Grund, den sie nicht kannte, hatte er bis vor wenigen Tagen damit gewartet, die Pumpen wieder in Gang zu setzen. Sie war nicht einmal sicher, ob wirklich er dafür verantwortlich war oder nicht eher sein Meister, der Aether selbst, jene unfassbare Macht, die sich wie eine unsichtbare Glocke jenseits des Himmels über die Welt spannte.
    Sie wusste, dass nur einer ihr Antworten auf ihre Fragen geben konnte. Dazu aber musste sie ins Innere der Wolkeninsel gelangen, und dorthin führte nur der Weg durch die Pumpen.
    Zornig trat sie mit dem unverletzten rechten Bein gegen die Tür, ohne zu bedenken, dass das linke allein zu schwach war, um damit ihr Gleichgewicht zu halten. Mit einem Aufschrei geriet sie ins Schwanken und wurde vom eigenen Schwung gegen die Pumpe geworfen. Sie fiel hin, wälzte sich mit einem wütenden Schluchzen herum und lehnte den Rücken gegen das eiskalte Eisen. Tränen der Wut liefen ihr übers Gesicht, als sie mit beiden Händen das verwundete Bein ausstreckte.
    Das Felsenwesen, mit dem sie in der Halle der Luftschlitten gekämpft hatte, hatte Alessias Oberschenkel mit einem seiner säbelartigen Armdorne durchbohrt. Die Hornklinge hatte den Knochen verfehlt, was ihr Glück gewesen war. Trotzdem würde es lange dauern, bis die Wunde in Muskeln und Fleisch verheilt war.
    Sie rappelte sich auf, rieb sich die Tränen aus den Augen und stieß einen Pfiff aus. Die Sonne war fast untergegangen. Bald würde es auf dem Berg noch kälter werden. Es war zwecklos, hier länger auszuharren.
    Aus der anbrechenden Dämmerung trabte ihr Pferd heran. Sie zog sich auf seinen Rücken und lenkte es vom Gipfel auf den schmalen Pfad, der zwischen erstarrten Wolkenbuckeln den Berg hinabführte. Hier oben befand sie sich rund achthundert Meter über dem ebenen Teil der Wolkeninsel. Selbst in der aufziehenden Dunkelheit sah sie von hier aus noch die Narben der Schlacht. Wo die Felsenwesen den Rand der Insel erklommen hatten und vom Herzog und seinen Männern in Kämpfe verwickelt worden waren, markierten hässliche schwarze Flecken das Schlachtfeld. Wälle aus Reisig waren entzündet worden, um die Angreifer aufzuhalten; ihre Überreste sahen aus wie Brandwunden im weißen Leib der Insel. Alessia glaubte noch immer den Gestank der Feuer zu riechen, in deren Flammen zahlreiche Felsenwesen umgekommen waren. Später hatte man auch die Toten des Wolkenvolks verbrannt, so wie es seit jeher Sitte war auf der Insel. Vielleicht war es ihr Geruch, der dem Eiland noch immer folgte, eine Aschespur aus verlorenen Seelen.
    Alessias Pferd suchte sich seinen Weg den schmalen Pfad hinunter.
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