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Das Wirken der Unendlichkeit

Das Wirken der Unendlichkeit

Titel: Das Wirken der Unendlichkeit
Autoren: Carlos Castaneda
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mir von einem Boten auf dem Motorrad ihre Entschuldigung überbringen. Kay Condor schrieb, sie halte nichts von einer Scheidung und könne sich nicht ein ganzes Leben an jemanden binden, der ihre Ansichten über das Leben nicht aufrichtig teile. Sie erinnerte mich daran, daß ich mich jedesmal, wenn ich den Namen >Condor< aussprach, über ihren Künstlernamen lustig machte, und das beweise einen völligen Mangel an Respekt für ihre Person. Sie fügte hinzu, sie habe die Angelegenheit mit ihrer Mutter besprochen. Sie hätten mich beide zwar wirklich gern, aber nicht so gern, um mich in ihre Familie aufzunehmen. Außerdem, erklärte sie, sollten wir unter diesen Umständen tapfer und klug sein und die ganze Sache einfach vergessen.
    Ich war damals wie betäubt gewesen. Aber als ich mich an jenen Tag erinnern wollte, wusste ich nicht mehr, ob ich mich schrecklich gedemütigt fühlte, weil ich in meinem geliehenen grauen Frack und der zu weiten Hose mit den Hochzeitsgästen ohne Braut vor der Kirche stand, oder ob ich am Boden zerstört war, weil mich Kay Condor nicht heiraten wollte.
    Ich konnte nur diese beiden Ereignisse mit Deutlichkeit aus allen anderen herauslösen. Es waren dürftige Beispiele, aber nachdem ich sie mir wieder vor
    Augen geführt hatte, gelang es mir, sie als Geschichten philosophischen Sichfügens zu sehen. Ich hielt mich für einen Menschen, der ohne wahre Gefühle und nur mit intellektuellen Ansichten durch das Leben ging. Mit Don Juans Metaphern als Vorbild dachte ich mir sogar eine eigene aus. Ich sah mich als einen Menschen, der sein Leben stellvertretend in Hinblick auf das lebt, was das Leben sein sollte.
    Ich glaubte zum Beispiel, der Tag, an dem ich mein Studium an der University of California begann, sollte ein denkwürdiger Tag sein. Da es nicht der Fall war, versuchte ich so gut wie möglich, dem Ereignis eine Bedeutung beizumessen, die ich keineswegs empfand. Etwas Ähnliches hatte es mit dem Tag auf sich, an dem ich beinahe Kay Condor geheiratet hatte. Dieser Tag hätte mich unglücklich machen müssen, aber das war nicht der Fall. Als ich mich daran erinnerte, wusste ich, daß nichts dergleichen geschehen war. Deshalb gab ich mir größte Mühe zu konstruieren, was ich hätte empfinden müssen.
    Als ich Don Juan das nächste Mal in seinem Haus besuchte, berichtete ich ihm sofort nach meiner Ankunft von den beiden Beispielen denkwürdiger Ereignisse in meinem Leben.
    »Das ist alles Unsinn«, erklärte er. »Nichts davon ist brauchbar. Die Geschichten handeln ausschließlich von dir als einer Person, die denkt, fühlt, Tränen vergießt oder überhaupt nichts empfindet. Die denkwürdigen Ereignisse im Album eines Schamanen sind Dinge, die der Prüfung der Zeit standhalten, denn sie haben nichts mit ihm zu tun, und trotzdem befindet er sich im Zentrum der Ereignisse. Für die Dauer seines Lebens und vielleicht sogar darüber hinaus wird er sich in ihrem Mittelpunkt befinden, aber nicht als Person.« Seine Worte entmutigten mich und nahmen mir den Wind aus den Segeln. Damals glaubte ich allen Ernstes, Don Juan sei ein starrsinniger alter Mann, der einen besonderen Gefallen daran fand, mir das Gefühl zu geben, ich sei dumm. Ich verglich ihn mit einem Kunstlehrer, den ich in der Gießerei einer Bildhauerklasse kennengelernt hatte, als ich eine Kunstschule besuchte. Der Meister kritisierte alles und entdeckte überall Fehler an den Werken seiner bereits fortgeschrittenen Schüler und verlangte von ihnen, ihre Arbeiten nach seinen Anweisungen zu verbessern. Die Schüler machten sich wieder an die Arbeit und gaben vor, den Fehler zu korrigieren. Ich weiß noch, wie der Meister voll Zufriedenheit feststellte: »So, jetzt ist das etwas Ordentliches!« obwohl ihm der Gegenstand unverändert vorgelegt wurde. »Mach dir nichts daraus«, sagte Don Juan und riss mich aus meinen Gedanken. »Zu meiner Zeit ging es mir genauso. Viele Jahre lang wusste ich nicht, was ich für mein Album wählen sollte. Ich glaubte, ich hätte keine Erfahrungen, aus denen ich eine Auswahl hätte treffen können. Es war geradezu so, als hätte ich nie etwas erlebt.
    Natürlich hatte ich schon alles mögliche erlebt, aber in dem Bemühen, mein Bild von mir zu verteidigen, fehlte mir die Zeit oder die Bereitschaft, etwas Geeignetes zu sehen.«
    »Don Juan, kannst du mir etwas genauer sagen, was an meinen Geschichten falsch ist? Mir ist bewusst, daß sie nichts wert sind, aber mein ganzes Leben ist so.«
    »Ich
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