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Das Wirken der Unendlichkeit

Das Wirken der Unendlichkeit

Titel: Das Wirken der Unendlichkeit
Autoren: Carlos Castaneda
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so schnell wie sein Körper, und eines Tages starb er an Herzversagen. Ich ging mit einem anderen Jungen aus reiner Neugier in das Leichenschauhaus. Der Leichenbestatter, der vielleicht noch morbider war als wir, ließ uns durch die Hintertür ein. Er zeigte uns sein Meisterwerk. Er hatte den riesigen, etwa zwei Meter zwanzig großen Jungen in einen Sarg für einen Menschen mit normaler Größe gelegt. Damit das möglich war, hatte er ihm die Beine abgesägt. Der Leichenbestatter zeigte uns, daß er dem Toten die Beine in die Arme gelegt hatte, als halte er zwei Siegestrophäen.
    Ich empfand bei dem Anblick eine Angst, die der Angst glich, die ich als Kind in dem Leichenschauhaus erlebt hatte, aber diesmal war die Angst keine körperliche Reaktion, sondern eine Reaktion psychischen Abscheus. »Du kommst der Sache schon näher«, sagte Don Juan. »Deine Geschichte ist jedoch noch immer zu persönlich. Sie ist widerwärtig. Ich finde sie abstoßend, aber ich finde, sie hat ein großes Potential.« Don Juan und ich lachten über den Horror, der in alltäglichen Situationen zu entdecken ist. Inzwischen hatte ich mich hoffnungslos in den morbiden Fäden verfangen, die ich ans Tageslicht gezogen hatte. Ich erzählte ihm auch die Geschichte von meinem besten Freund Roy Goldpiss. Er hatte einen polnischen Namen, aber seine Freunde nannten ihn Goldpiss, weil sich alles, was er anfasste, in Gold verwandelte. Kein Wunder also, daß er ein sehr erfolgreicher Geschäftsmann war. Sein geschäftliches Talent machte ihn jedoch ungeheuer ehrgeizig. Er wollte allen Ernstes der reichste Mann der Welt werden. Roy Goldpiss stellte aber fest, daß diese Herausforderung eine Nummer zu groß für ihn war. Er machte seine Geschäfte allein und konnte sich zum Beispiel, wie er sagte, nicht mit dem Oberhaupt einer islamischen Sekte messen, der damals Jahr um Jahr sein Körpergewicht mit Gold aufgewogen bekam. Der Sektenführer mästete sich vor dem Wiegen nach besten Kräften und wurde so schwer, wie es sein Körper verkraften konnte.
    Von da an begnügte sich mein Freund Roy damit, der reichste Mann der Vereinigten Staaten werden zu wollen. Die Konkurrenz auf diesem Gebiet war jedoch unbarmherzig. Er steckte weiter zurück. Vielleicht konnte er der reichste Mann von Kalifornien werden. Auch dazu war es zu spät. Er gab die Hoffnung auf, daß er mit seiner Kette von Pizzerien und Eiscafes in der Geschäftswelt weit genug nach oben kommen konnte, um es mit den etablierten Familien aufzunehmen, denen Kalifornien gehört. Er gab sich schließlich damit zufrieden, der reichste Mann in Woodland Hills zu sein, dem Stadtteil von Los Angeles, in dem er sein Haus hatte. Zu seinem Pech wohnte in derselben Straße wie er ein gewisser Mr. Marsh. Ihm gehörten die Fabriken, die 1-A Qualitätsmatratzen für die gesamte USA herstellten. Dieser Mann war über alle Maßen reich. Roys Frustration kannte keine Grenzen. Sein Ehrgeiz, den Mann zu übertreffen, war so groß, daß schließlich seine Gesundheit darunter litt. Eines Tages starb er an einem Aneurysma im Gehirn. Sein Tod führte zu meinem dritten Besuch in einem Leichenschauhaus. Roys Frau bat mich, seinen besten Freund, dafür zu sorgen, daß der Tote angemessen aufgebahrt wurde. Ich ging zu dem Bestattungsunternehmen. Dort führte mich ein Angestellter in die inneren Räume. Als ich eintrat, war der Leichenbestatter - der Tote lag auf einem hohen Tisch mit einer Marmorplatte - gerade dabei, gewaltsam die Mundwinkel zu heben, die bereits erstarrt waren. Dazu benutzte er den Zeigefinger und den kleinen Finger der rechten Hand, während er den Mittelfinger gegen die Handfläche drückte. Ein groteskes Lächeln erschien auf dem Gesicht des toten Roy. Der Leichenbestatter drehte sich halb zu mir um und sagte unterwürfig: »Ich hoffe, so ist es Ihnen recht, mein Herr.«
    Seine Frau - niemand wird je erfahren, ob sie ihn mochte oder nicht - wollte ihn mit allem Prunk begraben, den sein Leben ihrer Meinung nach verdiente. Sie hatte den teuersten Sarg gewählt, eine Sonderanfertigung, die wie eine Telefonzelle aussah. Die Idee dazu stammte aus einem Film. Roy sollte begraben werden, als sitze er am Telefon und mache wie immer ein gutes Geschäft.
    Ich blieb nicht zu der Beerdigung. Eine schreckliche Wut hatte mich erfasst, eine Mischung aus Ohnmacht und Zorn - eine Art Zorn, der sich auf niemanden projizieren ließ.
    »Du bist eindeutig heute in einer morbiden Stimmung«, sagte Don Juan lachend. »Aber trotz
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