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Das Wirken der Unendlichkeit

Das Wirken der Unendlichkeit

Titel: Das Wirken der Unendlichkeit
Autoren: Carlos Castaneda
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wiederhole noch einmal«, erwiderte er, »die Geschichten im Album eines Kriegers sind nicht persönlich. Mit deiner Geschichte von dem Tag, als du zum Studium an der Universität zugelassen wurdest, machst du nur geltend, daß du der Mittelpunkt von allem bist. Du fühlst, oder du fühlst nicht. Du erkennst, oder du erkennst nicht. Verstehst du, was ich meine? Die ganze Geschichte dreht sich nur um dich, um deine Person.« »Aber wie könnte es anders sein, Don Juan?« fragte ich.
    »In deiner anderen Geschichte berührst du beinahe das, was ich von dir möchte, aber du verdrehst es wieder in etwas höchst Persönliches. Ich weiß, du könntest mehr Einzelheiten hinzufügen, aber alle Details wären nur eine Vergrößerung deiner Person, weiter nichts.« »Ich verstehe dich wirklich nicht, Don Juan«, widersprach ich. »Jede Geschichte, die durch die Augen eines Zeugen berichtet wird, hat prinzipiell etwas Persönliches.«
    »Ja, ja, natürlich«, sagte er lächelnd und freute sich wie üblich über meine Verwirrung. »Aber dann gehören sie nicht in das Album eines Kriegers. Es sind Geschichten für einen anderen Zweck. Die denkwürdigen Ereignisse, die wir suchen, besitzen den dunklen Anflug des Unpersönlichen. Dieser Anflug durchdringt sie. Ich weiß nicht, wie ich es sonst erklären könnte.« Damals glaubte ich, einen Augenblick der Erleuchtung zu haben und zu verstehen, was er mit dem >dunklen Anflug des Unpersönlichen< meinte. Ich dachte, er wollte eine Schauergeschichte. Das bedeutete Dunkelheit für mich. Und so erzählte ich ihm eine Geschichte aus meiner Kindheit.
    Einer meiner älteren Vettern studierte Medizin. Er machte sein Praktikum, und eines Tages nahm er mich in das Leichenschauhaus mit. Er versicherte mir, ein junger Mann sei es sich schuldig, Tote anzusehen, denn der Anblick habe einen erzieherischen Wert, da der Tod die Vergänglichkeit des Lebens beweise. Mein
    Vetter ließ nicht locker, um mich zu überreden, ihn in das Leichenschauhaus zu begleiten. Je mehr er darüber sprach, wie unbedeutend wir im Tod seien, desto neugieriger wurde ich. Ich hatte noch nie eine Leiche gesehen. Meine Neugier gewann schließlich die Oberhand, und ich ging mit ihm.
    Er zeigte mir mehrere Leichen, und es gelang ihm, mir größtes Entsetzen einzuflößen. Ich fand den Anblick der Toten weder erzieherisch noch besonders erhellend. Die Leichen waren einfach das Entsetzlichste, was ich jemals gesehen hatte. Während er mit mir sprach, blickte er wiederholt auf die Uhr, als warte er auf jemanden, der im nächsten Augenblick hier auftauchen werde. Er wollte mich offensichtlich länger im Leichenschauhaus festhalten, als meine Kräfte zuließen. Meinem kämpferischen Wesen entsprechend dachte ich, er beabsichtige, mein Durchhaltevermögen und meine Männlichkeit auf die Probe zu stellen. Ich biss die Zähne zusammen und war entschlossen, bis zum bitteren Ende auszuharren. Das bittere Ende kam auf eine Weise, die ich mir nicht hätte träumen lassen. Eine mit einem Laken verhüllte Leiche bewegte sich plötzlich röchelnd auf dem Marmortisch, auf dem alle Toten lagen, und schien sich aufzusetzen. Die Leiche gab einen schrecklichen Rülpser von sich, der mir durch Mark und Bein ging und den ich für den Rest meines Lebens nicht vergessen werde. Mein Vetter, der Arzt und Wissenschaftler, erklärte, bei dem Toten handle es sich um einen Mann, der an Tuberkulose gestorben war. Seine Lunge sei von Bazillen aufgefressen, die in den Lungenflügeln große, mit Luft gefüllte Löcher hinterlassen hätten. In solchen Fällen führe das dazu, daß sich der Tote bei einer Veränderung der Lufttemperatur manchmal aufsetze oder zumindest in Zuckungen gerate.
    »Nein, du hast es noch nicht begriffen«, sagte Don Juan und schüttelte den Kopf. »Die Geschichte handelt nur von deiner Angst. Auch ich wäre zu Tode erschrocken gewesen. Und wenn jemand so große Angst hat, kann das seinen Weg nicht erhellen. Aber ich bin doch neugierig zu erfahren, was mit dir dann geschah.« »Ich habe wie verrückt geschrieen«, sagte ich. »Mein Vetter schimpfte, ich sei ein Feigling, eine Memme, weil ich mein Gesicht vor Entsetzen an seine Brust drückte und mich dann übergab.«
    Ich fand plötzlich Gefallen an den Schauergeschichten meines Lebens und erzählte Don Juan eine andere Begebenheit von einem Sechzehnjährigen, den ich in der Schule kannte. Der Junge hatte eine Drüsenkrankheit und wurde übermäßig groß. Sein Herz wuchs jedoch nicht
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