Das Winterkind
meinen Vater die große Leere in ihre Klauen bekommen hatte, dann war er nachts durch die Fabrik gegangen. Ich hatte ihn gelegentlich heimlich dabei beobachtet, wie er durch die verlassenen Hallen streifte, nachdenklich Maschinen berührte, sich schon gepackte Kartons ansah oder sich für ein paar Augenblicke an den Platz einer Packerin setzte. Später, als auch in der Nacht gearbeitet wurde, hatte er einfach in seinem dunklen Büro gesessen und nachgedacht. Ich hatte mich vor den menschenleeren Hallen eher gefürchtet. Die Leere war bedrohlich; ich hatte mich in der Fabrik auch nie so gut ausgekannt wie mein Vater. Er vergaß nie ein Gesicht oder einen Namen, und wen er einmal eingestellt hatte, an den konnte er sich auch Jahre später noch erinnern.
Wenn ich ehrlich war, dann bedauerte ich in diesem Moment, dass er tot war. Ich hatte nie viel auf seine Ratschläge gegeben, doch nun hätte ich gerne gewusst, was er von meinem Entschluss hielt, mich ganz von den Fabriken zu trennen, auch wenn eine Rettung der Werke eventuell möglich gewesen wäre, und eine Zeit lang am See zu bleiben. Immerhin ging damit auch eine Familientradition zu Ende: das Ende der berühmten Graf-Schokolade.
Ich warf Licht eine fette Scholle in den Käfig, damit wenigstens er sich beruhigte, dann ging ich wieder zum See. Ein paar Kinder rannten mit Schlittschuhen über das Eis, sie schrien und jagten sich nach, ein schwarzer Hund tollte zwischen ihnen umher. Ich versuchte auszumachen, ob Mark zu den Kindern gehörte, konnte ihn jedoch nicht entdecken. So ausgelassen und selbstvergessen wäre er wohl niemals über das Eis gelaufen.
Als ich Hedda anrief, hörte ich wieder nur ihre junge Stimme vom Anrufbeantworter. Ich hinterließ meine Nummer und bat sie, sich zu melden, doch wahrscheinlich würde der Junge auch diesmal meinen Anruf löschen.
Die Dunkelheit kam noch früher als in den Tagen zuvor. Ein goldenes Rot lag in der Luft, während die Sonne langsam unterging. Ich stand neben Lichts Käfig und lauschte. Vollkommene Stille umgab uns. Selbst der Reiher schien den Atem anzuhalten und ehrfürchtig den letzten Sonnenstrahlen nachzublicken. War nicht heute oder morgen der dunkelste Tag des Jahres, die Wintersonnenwende? Der eigentliche und durchaus heidnische Grund, warum wir in fünf Tagen Weihnachten feiern würden, denn dann hatten die Menschen die längste Nacht hinter sich gebracht? Ich hatte Holz gesammelt und entzündete das Feuer, sobald es dunkel geworden war. Ein Funkenregen erhob sich knisternd, das Holz war feucht geworden, und eckige Schatten tanzten um mich herum. Ich hörte einen Wagen durch die Nacht fahren und dachte sofort an Ochs. Im nächsten Moment schrillte mein Telefon. Hedda klang so leise, als befände sie sich am anderen Ende der Welt.
»Können wir uns sehen?«, fragte ich, ein wenig zu dringlich, wie ich mir selbst eingestehen musste.
»Leider habe ich noch einiges zu tun«, entgegnete Hedda mit sanfter Bestimmtheit. Sie hielt inne, als würde sie hektisch an einer Zigarette ziehen. »Morgen hat Mark Geburtstag. Ich muss ihm seinen Lieblingskuchen backen und seine Geschenke verpacken.«
Ich starrte ins Feuer; ganz lebendig sah es aus, als regten sich da kleine, glühende Wesen in ihm. »Meine Frau war mit ein paar Leuten hier«, sagte ich. »Sie wollten mit mir über die Fabrik sprechen, aber ich habe sie weggeschickt.Wahrscheinlich sind sie schon wieder zurückgefahren.«
»Nein«, sagte Hedda mit fester Stimme, »sie sind nicht abgefahren. Die beiden Autos stehen noch vor der Pension.«
Wir schwiegen für ein paar Sekunden. Ich hörte, dass sie tatsächlich rauchte und dachte an unseren Kuss. Was hatte so ein Kuss zu bedeuten? Nicht viel, vielleicht waren wirklich das Mondlicht und die Kälte Schuld gewesen.
»Ich werde eine Weile am See bleiben«, sagte ich, weil unser Schweigen zu lang und bedeutungsvoll wurde, »und mir einen Architekten suchen, der das Haus umbaut. Wenn du einen guten Architekten kennst …«
»Bedaure«, Hedda wirkte nun ungeduldig, »ich kann nicht mehr weiter mit dir sprechen. Komm morgen gegen Mittag ins Pfarrhaus, bevor Mark aus der Schule zurück ist.« Dann legte sie auf, aber vorher hörte ich noch, wie sie beinahe schmerzhaft ausatmete.
Ein Schatten glitt auf mich zu. Er trug eine Schirmmütze und einen viel zu dünnen Regenmantel. Ich hatte mich nicht geirrt, als ich einen Wagen gehört hatte. Ochs näherte sich vorsichtig dem Feuer. Wie ich ihn kannte, hatte er sich
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