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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Wohnblock, die ständig verschwitzt vor ihren Kochmaschinen standen, immerzu einen Lappen in der Hand, um die Fliegen zu vertreiben. Ihre Augen strahlten blau unter den dunkel gefärbten Wimpern hervor, und die Zähne zwischen ihren geschminkten Lippen wiesen vage Lippenstiftspuren auf … Ich hätte mich in ihren Schoß kringeln mögen, sogar mit meiner zerrissenen Unterhose,
mit meinen braunen Armen hätte ich ihren Hals umfassen mögen, und wir wären ewig so sitzen geblieben, Wange an Wange, mit blinzelnden Augen im grünen Halbschatten des Zimmers …
    Sie war Malerin, erklärte mir Mutter, als mein Mittagsschlaf vorüber war. Sie hatte ihnen mehrere Bildentwürfe gezeigt, von denen sie drei ausgewählt hatten: für das Speisezimmer ein paar Blumen, eine Stute mit ihrem Fohlen für den kleinen Flur und … die Insel Ada-Kaleh für mein Zimmer! War das nicht wunderbar? Auch wir würden echte Ölbilder haben, nicht die Katzenfotos aus den Zeitschriften und die Gobelins mit zwei sich küssenden Kindern, die alle anderen hatten. Ich, der ich stundenlang die glitzernden Palmen auf meinen Wänden betrachtete, als wären sie stets von neuem ein Wunder, konnte das nicht verstehen. Über dem Bett würde ein echtes Bild auftauchen (aber erst in einer Woche), mit vergoldetem Rahmen und sehr schön hineingemalten Dingen, wie ich es bisher einzig bei Lucian, dem Sohn des Securitate-Offiziers, zu Hause gesehen hatte.
    Einige Tage lang füllten die frisch gemalten Bilder die Wohnung mit ihrem Geruch. Mich kümmerten die Blumen und Pferde weniger als das Schwarze unter dem Nagel. Meines war jenes mit der Insel Ada-Kaleh, das mit den Palmen und dem riesigen Radio für mich eine phantastische Welt bildete. Ich schaute es an, bis ich halb blind war, prüfte es mit den Fingern und sogar mit der Zunge. Mir war es gelungen, jeden einzelnen Pinselstrich auf dem goldgerahmten Rechteck auszumachen. Die beiden anderen Bilder hatten eine Glasscheibe, meines aber hatte, ich weiß nicht, warum, nie eine. In der rechten unteren Ecke befand sich eine Signatur, die ich nicht lesen konnte. »Ada-Kaleh, Ada-Kaleh …«
Im Radio gab es ein Lied, daher kannte ich diesen Namen. Es wurde beinahe jeden Tag gespielt. Eine Frau sang es, sanft und sinnlich, es war ein türkisches Lied, denn die Insel Ada-Kaleh, das sagte mir Mutter, war von Türken besiedelt. Die Insel, auf der Mutter selbstverständlich nie war, lag in der Donau, aber sie erzählte so von ihr, als wäre diese Insel ein Teil ihrer Vergangenheit gewesen. Für mich aber war es eine Insel aus verdichteter Musik, mitunter wurde ein Wort mit solcher Intensität gesungen, daß der feine und elastische Faden der Musik durch die Wände und in die Weite unseres Arbeiterviertels hinausdrang, wo er die nassen und durchscheinenden Eisblöcke in der Eisfabrik schmelzen ließ, die Fäden an den Webstühlen der Donca-Simo-Weberei verwirrte, die Pressen und Drehbänke des Bahnwerks rosten und die hellblauen Sodawasserflaschen in der Apparatur mit dem gewaltigen Rad in der Sodawasserfabrik an der Ecke platzen ließ.
    Vom vielen Betrachten des Bildes an der Wand – vor allem wenn ich, die Augen auf das Bild gerichtet, auf meinem Bett herumhüpfte – begann ich nachts von einer wundersamen Landschaft zu träumen, es war vielleicht die verblüffendste Landschaft, die meinen Augen oder dem größeren Sehorgan hinter der Lidklappe meines Schädels zu sehen vergönnt war. Die Donau war es, aber nicht der abstrakte Strom, den wir in der Schule durchgenommen hatten, sondern ein Strom vermischter Wasser, mit grünen und blauen Schlieren, mehrere Kilometer breit, bis an den äußersten Rand des Bildes, die mit einer erschreckenden Wut zwischen steinernen Dämmen dahinflossen. Ein horizontaler Katarakt ohne Anfang und Ende, Wirbel aus flüssigem Kristall und massiven erstarrten Tropfen, von glühen
dem Glas, ein gewaltiger Stromleib, ein Strömen, das sich vom Mond herabstürzt oder aus der festen Quarzkugel des Himmelszelts. Glucksende und brodelnde Wasser, die wie Milliarden transparenter Krokodile ihrer Beute nachjagen, gläserne Hechte, Barben mit Windrogen. Von Felsen in Kindergestalt, die mit ihren Schädeldecken den Himmel umstürzten, gewürgte und pulverisierte Wasser. Es war die Donau bei Cazane, wie ich sie noch nie gesehen hatte, die ich aber genau so wiedererkannte, als ich sie endlich, zwanzig Jahre später, aus dem Zug sah. Bloß daß in jenem emblematischen Traum sich in den wilden Wassern,
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