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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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nicht erfahren, ob die Stadt Orschowa im Wasser verschwinden würde. Genausowenig hatte ich erfahren, daß
die Insel Ada-Kaleh, die meine Phantasie schon lange angeregt hatte, bevor ich sie tatsächlich kennenlernte, nunmehr von Welsen und Stören am schlammigen Grund des Stausees bevölkert sein würde. Schließlich werde ich, dank einer damals unvorstellbaren historischen Umwälzung, in beinahe alle Städte (irreale, irreale, wie bei Eliot) reisen, über die auf dem Sendersuchfeld der Radioanzeige die Nadel geglitten war, aber ich würde niemals Ada-Kaleh, die damals noch reale Insel sehen, real, wie die Realität selbst, jeder Grashalm war real, jedes Körnchen Kalk auf dem zylindrischen Minarett war real, jedes Motiv in den Arabesken des märchenhaften Teppichs – real, real und trotzdem durchscheinend wie alle Städte, Wolken, Köpfe und Würmer dieser Welt in Ruinen. Noch bevor ich erwachsen wurde, sollte die Insel unter dem Wasser verschwinden, etwa so wie die Thymusdrüse, die sich zum Ende der Jugend in die Brust zurückzieht. Und sie mußte verschwinden, damit für mich aus einem Kindheitsmythos ein konkreter Ort werden konnte, an dem einmal Menschen gelebt haben.
    Die Tragödie der Insel Ada-Kaleh, die 1970 vom Wasser verschlungen wurde wie die Welt von der Sintflut, prägte sich meinem Bewußtsein erst später ein, im folgenden Jahrzehnt, als ich damit begann, aus allen möglichen Quellen Informationen zu sammeln, die geeignet sein konnten, zwar nicht eine konkrete Welt aus den Fluten heraufzuholen, aber doch wenigstens ein Skelett, auf das ich meine Phantasmen und meine Nostalgie stützen konnte. Ich fand ein paar Artikel in alten Zeitungen und etliche Bilder, die in Druckerschwärze ersoffen waren und die ich mit Reißnägeln an den Rahmen des Bildes heftete, das immer noch mein Zimmer »schmückte«. Ich hatte darunter, in dem von
den Sprüngen meiner Kindheit durchhängenden Bett, schon mit den ersten Mädchen Liebe gemacht. Diese Mädchen hatten noch nie etwas von der Insel Ada-Kaleh gehört, glaubten auch nicht, daß es sie je außerhalb meiner famulierenden Dichterphantasie gegeben hatte. Von den Sexstunden ausgeweidet, schwebte ich wie ein weicher Ballon durchs Zimmer und erzählte allen die gleiche Geschichte mit dem genierlichen Gefühl, sie eben erst erfunden zu haben. Aber im Unterschied zu uns, den im Labyrinth der Leintücher Verirrten, war diese Geschichte wahr.
    Ada-Kaleh war eine Insel von zwei Kilometern Länge und etwas weniger als einem halben Kilometer Breite gewesen. Sie befand sich an der La Cazane genannten Stelle, wo sich das Flußbett der Donau verengte und die Wassermassen durch einen überwältigenden Engpaß mit Felsen, die sich in den Wolken verloren, strömten. Seinen Namen hatte der Ort von den ersten Festungsbauten, die Iancu de Hunedoara hier gegen die Türken errichtet hatte. Als die Türken kamen, nannten diese sie Burg-auf-der-Insel: Ada-Kaleh. Weil die ausgefransten Ränder der Grenze zwischen dem Osmanischen und dem Habsburgerreich sich häufig über die Insel hinweg verschoben, änderte diese ebenso häufig ihren Namen oder ihre Topologie. Im Jahre 1716 wurde sie unter dem Namen Carolina in die Karten eingetragen, und danach, weil Franz Joseph auf der Flucht vor den Türken angeblich seine Krone auf der Insel vergraben hatte (genau am geometrischen Mittelpunkt des von Wasser umgebenen Rhombus, hatte der Alchimist des Kaisers notiert), wurde das Eiland in Corona umbenannt. 1717 errichtete Eugen von Savoyen hier eine der modernsten und wehrhaftesten Festungen der Zeit. Außer dieser Festung fanden sich
auf der Insel nur noch harmlose mediterrane Skorpione und Blindschleichen mit gelber Bauchseite, die sich weich und geschmeidig durch das Gras schlängelten. Ein ungarischer Botaniker entdeckte auf der Insel Ada-Kaleh achtzehn Blütenpflanzen, die es nirgendwo sonst auf der Welt gab.
    Erst nach fast einem Jahrhundert der Eroberungen und Rückeroberungen kehrte Ruhe auf der Insel ein, so daß ein paar hundert Flüchtlinge, mehrheitlich Piraten aus dem zerfallenden Osmanischen Reich, zwischen den Ruinen der Festung Zuflucht fanden. Es waren Türken, Kirgisen, Araber und Perser, durch Sprachen getrennt, aber im Glauben vereint, die in Jahrzehnten den Weiler errichteten, der dann später in den Wassern untergehen sollte. Sie gaben ihre kriegerischen Neigungen auf und wurden Rahat- und Sugiucverkäufer, brauten Hirsetrank, schmiedeten Kupfer, verarbeiteten Tabak oder wurden
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