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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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Zigarettenfabrik ging in Staatseigentum über. Und trotzdem, selbst unter den Kommunisten überlebte der magische Zauber des Eilands, denn er saß in allen Köpfen und Herzen, wenn auch nur wie ein orientalischer Wandteppich oder ein Lied. Das für die Rumänen ganz und gar unvorstellbare Desaster aber folgte, als mit dem Fingerschnalzen eines künftigen Tyrannen einer der gesegnetsten Orte vom Erdboden verschwand, als hätte es ihn nie gegeben. Als Ceauşescu einige Jahre später Kirchen zerstörte, als er das historische Zentrum von Bukarest niederreißen ließ oder als er, ein Tornado in Menschengestalt, die rumänischen Dörfer vernichten wollte, hat die gesamte internationale Gemeinschaft protestiert. Aber der Mord an der Insel Ada-Kaleh geschah zu einer Zeit, da der neue Präsident von allen als Held gefeiert wurde: Er hatte sich dem Einmarsch der Truppen aus den Staaten des Warschauer Vertrags in die Tschechoslowakei widersetzt, wurde mit der englischen Königin in der offenen Kutsche herumgefahren und hatte Nixons Amerika besucht. An der Nase herumgeführt, hatten selbst die erbittertsten Dissidenten sich damals in die Kommunistische Partei Rumäniens eingeschrieben. Wer hätte da protestieren können, wer hätte das verstanden? Einerseits hatten wir einen Nationalhelden und wirtschaftliche Interessen, die von diesem Wasserkraftwerk abhingen. Und andererseits eine Handvoll Türken auf einem Inselflecken zwischen den Wassern … Und die kommunistische Propaganda funktionierte bestens: Gewiß, Orschowa, die alte rumänische Stadt würde verschwinden, dafür aber würde Neu-Orschowa, eine moderne Stadt in einem moder
nen Land erbaut werden. Ja, die Insel Ada-Kaleh würde vom Wasser verschluckt werden, aber sie werde auf einem anderen Eiland, auf Simian, wiedererstehen, wo man die Moschee und einen Teil der Festung hinbringen werde. Überflüssig zu sagen, daß Simian niemals ein anderes Ada-Kaleh geworden ist. In Wahrheit ist die Festung auf der Insel mit Dynamit gesprengt und der Rest der Inselbebauung mit Bulldozern plattgemacht worden. Von der Moschee hat man ein paar Steine wegtransportiert und sie dann auf der neuen Insel sich selbst überlassen, wo das Unkraut sie überwucherte. Den etwa tausend Türken von Ada-Kaleh hatte man angeboten, zu wählen, ob sie rumänische Staatsbürger bleiben oder in die Türkei auswandern möchten. Außer ein paar Alten, die sich aus nostalgischen Gründen nicht mehr weit vom Ort ihrer Jugend weg bewegen konnten, sind alle anderen für immer ausgewandert. In Istanbul und Ankara tauchten dann Konfektionsfabriken unter dem Namen Ada-Kaleh auf, in denen billige Kleidung ebenso wie Qualitätsware gefertigt wurde. Die Rahatspezialität »Lokum«, die auch den Namen Ada-Kaleh trägt, wird heute noch in den Basaren am Goldenen Horn gehandelt. Die in Neu-Orschowa Gebliebenen versammelten sich noch lange danach in Vollmondnächten am Ufer der Donau, wenn das Wasser zu einer dicken Glasscheibe wurde, unter der man ganz deutlich – wie sie mit einer gewissen Sturheit sagten – die alte Insel auf dem Grund der Donau sehen konnte, nicht bloß mit der Moschee, dem Palast von Ali Kadri und der Fabrik »Musulmana«, sondern mit jeder einzelnen ihrer oder ihrer Nachbarn Süßigkeiten- oder Getränkebuden. Dann starben die alten Leute, die noch Schalwar getragen oder die Wasserpfeife gepafft hatten, einer nach dem anderen und
träumten vielleicht von einem Paradies voll schöner Mädchen und Reisberge und prächtiger Vögel, wie es im Koran ausgemalt war. Vom Smaragd, den das Königreich Rumänien einst am Finger getragen hatte, blieben nur ein Lied übrig »Ada-Kaleh, Ada-Kaleh«, das Eli Roman nach dem Text von Grigoriu komponiert hatte, und ein Roman »Nächte auf Ada-Kaleh« von Romulus Dianu, die beide schon lange vergessen sind.
    Erst als ich an der Universität war, verstand ich, in was für einer Welt wir lebten. Täglich verschwanden die notwendigsten Dinge vom Markt. Tag für Tag wuchs, aus bestens genährten Gerüchten, der Mythos einer omnipräsenten und allmächtigen Securitate, die alles sah und wußte. Auf meinem täglichen Weg zur Universität kam ich durch stille Gassen mit Kaufmannshäusern, deren stuckgeschmückte Fassaden mit grotesken Figuren überladen waren: Gorgonen und Atlassen, Engel mit erhobenen Flügeln, die einen Balkon stützten … Davor standen große Kübel mit betörend duftendem Oleander … Manch eine mit Heiligen und Märtyrern bemalte Kirche hatte die
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