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Das wilde Leben

Das wilde Leben

Titel: Das wilde Leben
Autoren: Suhrkamp-Verlag <Berlin>
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schlicht und einfach Fischer. Sie holten sich in Pluderhosen gekleidete Frauen, die in Krügen auf dem Kopf das Wasser herbeitrugen und ihre Kinder erzogen. Als Europas großer Kranker starb, löste sich die türkisch gewordene Insel vom Mutterland ab und trat durch das Plebiszit von 1922 unter rumänische Verwaltung.
    Zwischen den beiden Weltkriegen folgte dann die legendäre, die glorreiche, von malerischem Reiz geprägte Epoche der Insel, die von nun an der »Smaragdring am Finger des Königreichs Rumänien« oder »Blütenkorb, der auf der Donau schwimmt« genannt wurde. Die aufeinander folgenden Gouverneure pflogen eine autonome Politik, in deren Folge das ärmliche Dörfchen zu einem kleinen Paradies wurde, als wäre es unmittelbar den Versen des Dichters Ion Barbu entsprungen: »An so einer Türkendonau / Wo auf
grünem Tabakfeld / Gut und Bös' zusammenfällt / Weiß die Feste wird erblühn / Warmes Hissarlik«. Die Moschee umgaben blendend weiße Häuschen, und aus deren Mitte erhob sich das Minarett, auf dem der Muezzin seine Gesänge ausrief. Im achtzehnten Jahrhundert als Kirche der Franziskanermönche erbaut, wurde die Moschee infolge der Wunder, die Miskin-Baba auf der Insel vollbracht hatte, dem Propheten geweiht und erhielt das neue Minarett, an dessen Fuße Miskin-Baba dann auch beerdigt wurde. Aber das größte Wunder der Moschee und sogar der gesamten islamischen Welt war (und ist auch heute noch, da er aus Platzmangel eingerollt in einem Raum der Moschee von Constanța steht) der berühmte Perserteppich, zu jener Zeit der größte der Welt, der den großen Saal der Moschee schmückte. Er war 15 Meter lang, 9 Meter breit und wog fünfhundert Kilogramm. Sultan Abdul Hamid der III . hatte ihn der türkischen Gemeinde der Insel als Zeichen seiner Verehrung für den dort begrabenen moslemischen Heiligen geschenkt. Wer tagsüber auf den legendären Teppich trat und im Gebet die Stirn in seinen unglaublich dicken Flaum versenkte, träumte des Nachts von einem Paradies voll der wollüstigsten und schönsten Jungfrauen und mit Bergen von süßem Brei – wie in den Suren des Koran.
    Mutter erzählte mir, als sie ein kleines Mädchen war, seien die Türken mit Wägelchen, denen sie einen Esel vorgespannt hatten, ins Dorf gekommen. Sie verkauften orientalische Spezialitäten: durchscheinenden und wie weiches Glas aussehenden Rahat, Sugiuc, Halva mit Nußkernen, gesüßte Feigen. Und weil die Leute kein Geld hatten, tauschten die Türken ihre Leckereien gegen Eier und Maiskolben. Sie waren sehr kinderlieb und gaben den Ärmsten der Ar
men – zu denen Mutter gehörte – oftmals die Süßigkeiten auch umsonst. Viele jener Türken, die auf diese Weise durch die Walachei zogen, müssen von Ada-Kaleh gewesen sein.
    Aber jenseits dieser geringfügigen traditionellen Betätigungen war der Wohlstand und Ruhm der Insel der Zigarettenfabrik »Musulmana« zu verdanken, die in der Zwischenkriegszeit buchstäblich weltberühmt war. Unzählige junge Türkinnen saßen auf den Arbeitsbänken in der gewaltigen Halle, lachten und scherzten miteinander und rollten auf ihren Handflächen oder auf der Brust die Zigarren, die sie dann behutsam in die Kistchen aus aromatisiertem Holz legten, auf denen »Mareşal«, »Regal«, »Bafra« oder »Ali Kadri« stand … Da die Insel porto franco war, mußte die Fabrik keinerlei Exportsteuern entrichten und prosperierte unvorstellbar, wurde für alle großen Königshäuser Europas zum Lieferanten für gekräuselten und parfümierten Rauch. Ein ehemaliger Fischer namens Ali Kadri hatte die Fabrik gegründet und war sehr bald zum »Sultan« der Gemeinde geworden. Sein Palast, neben der Moschee errichtet, war das beeindruckendste Bauwerk auf Ada-Kaleh. »Die gesamte Insel steckt im Bauch von Ali Kadri«, hatte ein Reporter einmal geschrieben. In den dreißiger Jahren war die Insel eine Art Vergnügungsjacht, die inmitten der Donau festsaß. Ihre Straßen waren voller Cafés und Basare, die keine Sperrstunde kannten, Schmuggel und Kommerz reichten sich unter den duldsamen Augen der Autoritäten die Hände, es ging zu wie in Casablanca. Ausgelöst von einem Haschischkügelchen und einem Löffelchen süßen Gelees, spielten sich unter den dichten Dunst- und Qualmschleiern allerlei Liebesgeschichten ab.
    Zum ersten Mal ging die Insel 1948 unter, als die Wel
len der Geschichte ihr das orientalische Wohlbehagen austrieben. Die Geschäfte wurden verstaatlicht oder geschlossen. Auch die
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