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Das weiße Krokodil

Das weiße Krokodil

Titel: Das weiße Krokodil
Autoren: C. C. Bergius
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Unkraut zu befreien, um den zu erwartenden Ausflüglern einen bequemen Aufstieg zu sichern. Und im Tempel mußten die Statuen entstaubt und der Boden gescheuert werden. Bis zum Eintreffen der ersten Gäste aber standen ihm nur drei Tage zur Verfügung, eine viel zu knappe Zeit. Denn neben den Hauptarbeiten waren noch etliche Dinge zu erledigen. So erschien es ihm unmöglich, die Hennen unmittelbar vor der Pagode zu belassen. Er rodete ihnen also an einer etwas abgelegenen Stelle einen neuen Auslauf frei, der den Hühnern auch sehr behagte, mußte am Abend jedoch die schmerzliche Feststellung machen, daß die Henne ›Tang‹ von einem Raubtier überfallen und fortgeschleppt worden war.
    Sein ganzes Tun erschien ihm plötzlich sinnlos und er fragte sich verzweifelt, ob es sich wirklich lohne, einigen Ausländern die Schönheit und Erhabenheit der Sandelholz-Pagode zu zeigen.
    Doch dann sagte er sich: Wenn die Abgeschiedenheit dieses Tempels, dessen Dächer förmlich in den Himmel hineinwachsen, nur einen einzigen Besucher erkennen läßt, daß die Kraft des Glaubens ebensowenig geschmälert werden kann wie die der Erde, dann will ich zufrieden sein und nichts beklagen.
    Tie-tie fand Trost in dieser Hoffnung. Sein Gleichgewicht war wiederhergestellt und ließ ihn weiterhin tun, was er für notwendig erachtete. Er konnte nun sogar ohne Bitterkeit an Yen-sun denken, dessen egoistisches Streben ihn zwar nach wie vor bedrückte, ihm aber nicht ganz unverständlich war. Yen-sun lebte in einer anderen, vielleicht sogar wirklicheren Welt, und der greise Tie-tie war tolerant genug, sich dieses einzugestehen.
    Eines bereitete ihm allerdings ernstliche Sorge: daß Yen-sun ein übles Spiel mit ihm treiben und seine Gutmütigkeit ausnutzen könnte. Er wußte nicht, warum sich ihm diese Vorstellung immer wieder aufdrängte; ihre Wurzel mochte in Yen-suns Erklärungen liegen, die ihm zu gewollt und unnötig erschienen waren.
    Sein Mißtrauen vermochte ihn aber ebensowenig von seinen Vorbereitungsarbeiten abzuhalten, wie der Tod der Henne ›Tang‹, für den er sich verantwortlich fühlte. Er redete sich ein, daß das Unglück nicht geschehen wäre, wenn er den Hühnern keinen anderen Platz zugewiesen hätte.
    Solche Überlegungen halfen ihm natürlich nicht. ›Tang‹ war das Opfer eines Raubtieres geworden, und Tie-tie nahm sich vor, ›Ting‹ durch Rückgabe an Yen-sun vor einem ähnlichen Schicksal zu bewahren.
    Also rodete, säuberte, reinigte und putzte er drei volle Tage hindurch, ohne jemals zu erlahmen, und als er am Vorabend des ersten Gästebesuches einen letzten Kontrollgang durchführte, war er mit sich selbst zufrieden und überzeugt, einigen schönen und erhebenden Stunden entgegenzugehen. Die Arbeit hatte ihn aber so geschwächt, daß er an diesem Abend erstmals einschlief, ohne sein übliches Gebet verrichtet zu haben.
    Die Natur verlangte ihr Recht und ließ ihn in einen abgrundtiefen Schlaf sinken, aus dem er erst erwachte, als die Sonne schon hoch am Himmel stand.
    »Om mani padme hum!« stammelte er verwirrt, als er angesichts des hellen Tageslichtes erschrocken von seinem Lager auffuhr und schnell nach draußen blickte, um festzustellen, ob die angekündigten Ausflügler bereits eingetroffen seien. Er hatte Glück. Weit und breit war niemand zu sehen. Er konnte sich somit in Ruhe ankleiden, was er denn auch mit einer Sorgfalt tat, die ihm sonst nicht zu eigen war. Er fuhr sich sogar etliche Male durch das Haar und scheute sich nicht, das Fenster seiner Kammer als Spiegel zu benutzen. Anschließend führte er ›Ting‹ ins Freie, und nachdem er die Pagode umwandert und allen Menschen und Tieren einen angenehmen Tag gewünscht hatte, stieg er die Steintreppe wie ein Hausherr hinab, der sich bis zum Eintreffen seiner Gäste noch ein wenig ergehen will. Dabei atmete er die frische Luft mit vollen Zügen ein und dankte dem Allmächtigen für die hohe Gnade, die Schönheit der Erde erleben und genießen zu dürfen. In allem, was er sah, erblickte er eine Offenbarung des Himmels. Für ihn war jeder Mensch und jedes Tier, jeder Baum und Strauch, jedes Blatt und jeder Tautropfen ein in sich abgeschlossenes Wunder, und wenn er, wie an diesem Morgen, die Natur in ihrer Vollkommenheit auf sich einwirken ließ, dann glaubte er, von unsichtbaren Händen in eine Welt getragen zu werden, die keine Sorgen kennt und dem Nirwana nahekommt, dem Reich der vom Erdenleid Erlösten.
    Aus diesem Glückszustand wurde Tie-tie vom
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