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Das weiße Krokodil

Das weiße Krokodil

Titel: Das weiße Krokodil
Autoren: C. C. Bergius
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ließ das herrliche Kristallkleid zusammenschmelzen und machte aus der Schneeflocke wieder das, was sie einstmals gewesen war: einen Regentropfen!
    Ein Tropfen aber ist kugelrund und kann auf einem schrägen Fenstersims nicht liegenbleiben. Er setzte sich also in Bewegung und dachte: ›Wozu sich grämen? Ich war jetzt wenigstens einmal eine Schneeflocke und habe das Glück gehabt, in eine von vielen Menschen bewohnte Stadt zu gelangen.‹
    In diesem Augenblick erreichte er den Rand des Fenstersimses, und es blieb ihm keine andere Wahl, als über ihn hinwegzurutschen und sich fallen zu lassen. Aber das kannte er ja zur Genüge. Er ließ sich also los, sauste in die Tiefe und klatschte auf ein kleines Dach, das den Hoteleingang schützte.
    ›Besser hätte ich es nicht treffen können‹, dachte der Tropfen zufrieden. ›Hier kommen bestimmt viele Menschen vorbei.‹
    Das Dach war jedoch so kalt, daß er schnell erstarrte, und nur mit äußerster Anstrengung gelang es ihm, einen überstehenden Metallbügel zu erreichen, von dem er nach unten springen wollte. Aber dann konnte er sich mit einem Male nicht mehr bewegen: er war zu Eis gefroren und saß fest wie eine Fliege an der Leimrute.
    ›Nun gut‹, sagte er sich, ›dann werde ich die Menschen eben von hier oben beobachten.‹
    Er hatte nicht damit gerechnet, daß ihm etliche Regentropfen folgten, denen es gleich ihm ergangen war. Und sie alle erstarrten an derselben Stelle, so daß sich in kurzer Zeit ein Eiszapfen bildete, in dessen Innerem er nun saß, ohne etwas sehen zu können.
    Verständlich, daß er mächtig schimpfte. Er hatte sich alles so schön vorgestellt und war plötzlich dazu verdammt, als Gefangener unter Gefangenen an einem Dach zu hängen. Doch das war erst der Anfang eines Leidensweges, der ihm erspart geblieben wäre, wenn er nicht den Wunsch gehabt hätte, mehr als ein einfacher Regentropfen zu sein. Denn der Eiszapfen, in dem er saß, wurde eines Morgens von einem Hausmeister abgeschlagen und fiel auf die Straße, wo ihn ein Passant ärgerlich zur Seite stieß. Dann wurde er von einem Jungen aufgehoben und so heftig auf die Straße geschmettert, daß er in tausend Stücke zerbarst. Und kaum hatte unser zu Eis gewordener Regentropfen sich von seinem Schreck erholt, da rasten Autos über ihn hinweg, die ihn mit Schmutz und Öl bespritzten. Aber das war noch nicht alles: Räder zerquetschten ihn, dann wurde er hochgewirbelt und gegen einen Bordstein geschleudert, wo er benommen liegenblieb, bis harte Kehrbesen ihn rücksichtslos erfaßten und in ein Aufnahmeloch der städtischen Kanalisation stießen. Und das war das Schlimmste, was ihm geschehen konnte! Er schwamm nun in einer widerwärtigen Brühe von Abwässern, deren Geruch so ekelerregend war, daß er glaubte, auf der Stelle vergehen zu müssen.
    Seine Irrfahrt aber war noch nicht zu Ende. Tagelang floß er durch unterirdische dunkle Rohre inmitten des Morastes einer ganzen Stadt, bis er in ein Klärbecken geriet, aus dem er sich erst nach endlosen Kämpfen befreien und in einen Fluß retten konnte, dessen Wasser von Algen gereinigt und von der Sonne erwärmt wurde.
    ›Das soll mir eine Lehre sein‹, sagte er sich, und von Stund an ist er überglücklich, wenn es ihm vergönnt ist, als einfacher Regentropfen auf ein Feld oder in einen Wald zu fallen.«
    »Und warum hat der Allmächtige ihm nicht gleich gesagt, was aus ihm wird, wenn er als Schneeflocke in eine Stadt fällt?« fragte Yen-suns Sohn mit fiebernden Wangen.
    »Weil dann eine ewige Sehnsucht und Unzufriedenheit in ihm geblieben wäre«, antwortete Tie-tie und blickte zu Yen-sun hinüber. »Ermahnungen haben leider nicht immer die Wirkung von Erfahrungen. Nur wer sich einmal verbrannt hat, greift nicht mehr ins Feuer.«

VI
     
     
     
    Die hoch über der Steintreppe gelegene Sandelholz-Pagode war für Tie-tie nicht nur ein Tempel der Einsamkeit. Er sah in ihr die Versinnbildlichung der kosmischen Weltachse, mit der die Götter den Äther quirlen, um den Trunk der Unsterblichkeit zu bereiten. Und eben weil er in der Pagode und dem zu ihr führenden Stufenberg einen sinnvollen Ausdruck der religiösen Mystik seiner Heimat erblickte, bewegte ihn Yen-suns Plan, das inmitten des Dschungels gelegene Bauwerk einem Kreis aufgeschlossener Menschen zugänglich zu machen, in so hohem Maße, daß er den Entschluß faßte, das ganze Gelände einer gründlichen Säuberung zu unterziehen. Vor allem den Aufgang wünschte er weitgehend von
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