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Das weiße Krokodil

Das weiße Krokodil

Titel: Das weiße Krokodil
Autoren: C. C. Bergius
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aus Stein gebaut«, erklärte der durch den Einwurf seiner Frau unsicher gewordene Yen-sun. »Ihren Namen hat sie nach einem aus Sandelholz geschnitzten, liegend dargestellten Buddha, der sich in ihrem Inneren befindet.«
    Der greise Tie-tie faltete ergriffen die Hände. »Om mani padme hum! Das ist ein Zeichen des Himmels! Wenn Buddha dort im Nirwana- Zustand dargestellt ist, dann…« Er brach jäh ab und verdeckte sein Gesicht.
    »Was ist dann?« fragte Yen-sun verwundert.
    »Dann wartet die verlassene Pagode auf mich.«
    »Du darfst nicht dorthin gehen!« rief die Frau des Chinesen.
    Tie-tie sah sie erstaunt an. »Und weshalb darf ich das nicht?«
    »Weil dort ein weißes Krokodil sein Unwesen treibt!«
    Die Augen Tie-ties weiteten sich. »Ein weißes Krokodil, hast du gesagt?«
    »Ja! Seit Jahren haust es im brackigen Wasser des zur Pagode führenden Klongs. Niemand ist sicher vor ihm. Erst kürzlich hat es einen japanischen Soldaten ergriffen und ihn so lange unter Wasser gezerrt, bis er tot war.«
    Der greise Tie-tie hörte nicht die erregten Worte der jungen Frau. Er sah im Geiste das weiße Krokodil und dachte an die Symbolik der Überlieferung, derzufolge die weiße Farbe den alles erlösenden Tod versinnbildlicht. Für ihn war das ungewöhnliche Aussehen des Tieres ein weiteres Zeichen des Himmels, den er täglich anflehte, mit seinem gegenwärtigen, nur auf Gebete und gute Werke ausgerichteten Leben dem Kreislauf der steten Wiedergeburt entfliehen zu dürfen, um endlich das Nirwana zu erreichen und vom Erdenleid erlöst zu sein: befreit vom Karma, dem unentrinnbaren Gesetz der Vergeltung aller guten und schlechten Taten, das über den Tod hinausreicht und neue Daseinsformen in der gleichen Weise bestimmt, wie Wellen fortschreiten und ein Licht das andere entzündet.
    Auf Tie-ties pergamentartigen Wangen lag eine zarte Röte, als er, wie aus einer anderen Welt kommend, glücklich lächelnd zu der nun unmittelbar vor ihm stehenden zierlichen Frau aufblickte, die ihn verständnislos ansah.
    »Was hast du?« fragte er betroffen, da er den Ausdruck ihres Gesichtes nicht deuten konnte.
    Sie machte eine unwillige Bewegung. »Ich verstehe nicht, wie du zufrieden lächeln kannst, wenn ich erzähle, daß das weiße Krokodil einen Menschen getötet hat.«
    Der greise Tie-tie erschrak und bat vielmals um Entschuldigung dafür, daß er in Gedanken anderswo gewesen sei und ihr nicht mit der gebotenen Aufmerksamkeit zugehört habe. Darüber hinaus bekundete er sein tiefempfundenes Mitleid mit dem Getöteten und versicherte, daß er ihn künftighin in seine Gebete einschließen und den Allmächtigen um Gnade für ihn bitten werde.
    »Dafür danke ich dir«, entgegnete Yen-suns Frau versöhnt. »Und, nicht wahr, du versprichst mir, daß du nicht zur Sandelholz-Pagode gehen wirst.«
    »Das Versprechen kann ich dir leider nicht geben«, erwiderte Tie-tie in einem um Nachsicht bittenden Tonfall. »Ich möchte es gerne, doch nachdem der Himmel mir untrügliche Zeichen sandte, muß ich…«
    »Aber das Krokodil!« unterbrach sie ihn verzweifelt. »Hast du denn keine Angst vor ihm?«
    »Nein«, antwortete er mit weicher Stimme. »Krokodile sind wie Tiger: sie machen aus Angst Angst. Weshalb sollte ich mich also fürchten? Ich habe dem weißen Krokodil nichts getan und werde ihm auch nichts tun; es wird sich dementsprechend verhalten und friedfertig sein. Sei also ohne Sorge.«
    Seine Unbekümmertheit konnte die zierliche Chinesin nicht beruhigen. Mit immer neuen Argumenten versuchte sie, Tie-tie von seinem ihr verwegen erscheinenden Entschluß abzubringen. Er aber wollte davon nichts wissen, so daß sie in ihrer Ratlosigkeit schließlich ärgerlich erklärte: »Wer sich wissentlich in Gefahr bringt, sündigt gegen den Himmel! Was nützt es da, wenn du Gebete an ihn richtest?«
    Tie-ties Augen waren voller Güte, als er ihr sanft erwiderte: »Dein Eifer ehrt dich, mein Kind. Er beweist, daß du es gut mit mir meinst. Du bedenkst nur nicht, daß alle Dinge vom Himmel gefügt sind und nichts von uns bestimmt werden kann. Wie wäre es sonst zu erklären, daß dein Mann und ich, unabhängig voneinander und aus völlig verschiedenen Gründen, am blauen Wasser des Kuku-nor den Entschluß faßten, nach Malaya auszuwandern? Und stimmt es dich nicht nachdenklich, daß wir uns hier an einer Stelle trafen, die so angelegt ist, daß wir uns unbedingt treffen mußten? Die Landstraße endet vor eurer Haustür, und es gibt nur einen Menschen,
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