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Das weiße Krokodil

Das weiße Krokodil

Titel: Das weiße Krokodil
Autoren: C. C. Bergius
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verehrungswürdige Sphäre zur Wiedergeburt eingegangen, doch obwohl seitdem etliche Expeditionen in Richtung besonders intensiv leuchtender Regenbogen, selten gesehener Wolkengebilde und sonstiger extremer Naturerscheinungen ausgeschickt worden waren, um jenen Knaben zu finden, in den die unsterbliche Seele des 13. Dalai-Lama nach dessen Ableben zur Inkarnation eingekehrt sein mußte, war es immer noch nicht möglich gewesen, den verstorbenen Heiligen im neuen Fleische zu finden. Und da auch das Staatsorakel trotz vieler Befragungen keine bestimmten Hinweise gegeben hatte, war es nur zu verständlich, daß die meisten der an diesem unerträglich heißen Tage durch die Stadt ziehenden Mönche verängstigt zu dem sich verfinsternden Himmel emporblickten.
    Ganz anders hingegen reagierte der Regent von Lhasa, als das Tageslicht nur noch gebrochen in seinen Arbeitsraum einfiel. Mit hastigen Schritten eilte er zum Fenster, und als er die Ursache der befremdlichen Verdunklung erkannte, warf er ekstatisch die Arme in die Höhe und rief mit vor Erregung zitternder Stimme: »Om mani padme hum! Der ewige Himmel sendet uns ein Zeichen! Noch heute müssen wir das Orakel befragen!«
    Der im Hintergrund des Raumes mit bibliothekarischen Aufgaben beschäftigte Laienbruder Tie-tie sank ergriffen auf die Knie nieder, um sich tief zu verneigen und inbrünstig zu beten.
    Während er noch in gebückter Haltung am Boden kauerte, kehrte der Regent an seinen Arbeitsplatz zurück und rief mit einer silbernen Glocke einen Mönch herbei, den er anwies, unverzüglich das Orakel einzuberufen. Dann forderte er den monoton »O Kleinod in der Lotosblume!« murmelnden alten Laienbruder auf, gemeinsam mit ihm den die Seelenwanderung kontrollierenden Schutzpatron Tibets zu bitten, endlich den sehnlichst erwarteten Hinweis zu geben.
    Die winzigen Augen des greisen Tie-tie hatten voller Dankbarkeit geleuchtet, und seine an Pergament erinnernden Wangen röteten sich zusehends, als er die Gebetsmühle des Regenten mit aller Macht rotieren ließ. Das sonst so vertraute Klackern der mit Tausenden von Bittsprüchen gefüllten und beklebten Trommel steigerte sich zu einem ohrenbetäubenden Rasseln, das nur noch von dem nun nicht mehr heruntergeleierten, sondern jubelnd ausgestoßenen »Om mani padme hum!« des bald achtzigjährigen Klosterbruders übertönt wurde. Pausenlos wirbelten seine schmächtigen Arme die Gebetsmühle im Kreise, bis der Regent sich erhob und ihm mit einer Handbewegung zu verstehen gab, daß er ihm folgen solle.
    Tie-tie hatte seinen Vorgesetzten ungläubig angesehen. Er, der unbedeutende Bandi aus dem Kloster ›Ragendes Horn‹, sollte den zur Zeit höchsten Priester der Stadt zu jenem Tempel begleiten, in dem sich das Staatsorakel versammelte? Gewiß, genaugenommen war er kein Laienbruder, da er schon in jungen Jahren den Rang eines angehenden Geistlichen erworben hatte. Als er später jedoch zum Gelong geweiht werden sollte, da hatte er plötzlich darum gebeten, ihm die Würde zu versagen und ihn als einfachen Bandi im Kloster zu belassen. Gründe für seinen überraschenden Entschluß hatte er nicht genannt, und ihm war ein Stein vom Herzen gefallen, als man seinem Wunsche entsprach, ohne irgendwelche Fragen an ihn zu richten. Denn er hätte keine Antwort geben können. Und nun sollte er den höchsten Priester zum ›Tempel unterhalb des Reishaufens‹ begleiten?
    Der Regent hatte ihm aufmunternd zugenickt. »Ich kenne die Sehnsucht deines Herzens. Darum sollst du mit mir kommen.«
    Nach diesen Worten war Tie-tie mit glücklicher Miene hinter dem Hohenpriester hergetrippelt, der zuversichtlich seinen Arbeitsraum verließ, um das Staatsorakel aufzusuchen.
    Der über Lhasa liegende Dunst war mittlerweile so stark geworden, daß ihn kein Sonnenstrahl mehr durchdringen konnte. Die Luft in den Straßen glich dem heißen Atem eines Ungeheuers, und gelegentliche Windstöße schleuderten glühenden Sand wie Fontänen in die Höhe.
    Tie-tie achtete nicht darauf. Er fühlte sich Buddha näher denn je und dankte dem Allmächtigen für die Gnade, die ihm so unerwartet zuteil geworden war.
    Als, sie später aber die Stufen zum Portal des Tempels erreichten, in dem das Orakel nach dem Verbleib der unsterblichen Seele des dahingeschiedenen 13. Dalai-Lama befragt werden sollte, fiel es ihm schwer, mit dem Regenten Schritt zu halten, obwohl dieser sich nicht schnell, sondern würdevoll dem mächtigen Bronzetor näherte, vor dem etliche
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