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Das weiße Krokodil

Das weiße Krokodil

Titel: Das weiße Krokodil
Autoren: C. C. Bergius
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Würdenträger auf ihn warteten und ihm einen weiten Umhang über die Schultern legten. Von diesem Moment an hielt Tie-tie sich bescheiden zurück. Erst als der Hohepriester nach einem kurzen Gebet im verhangenen Vorhof in den Tempel eingetreten war, folgte er ihm zögernd bis zu einer im Hintergrund befindlichen Säule, neben der er wie gebannt stehenblieb, um sich ganz dem mystischen Bild hinzugeben, welches das Innere des von Butterlampen nur spärlich erhellten Tempels bot. Lediglich die vergoldeten Blätter der riesigen Lotosblume, in der die Statue Buddhas thronte, waren grell angestrahlt. Von ihnen stieg das Licht wie eine wehende Flamme an dem Dargestellten empor, dessen Ruhe ausstrahlendes Antlitz und in die Ferne gerichteter Blick nur schemenhaft zu erkennen waren.
    Die anwesenden Lamas saßen seitlich auf roten Diwanen. Von den langgezogenen Schatten, die ihre kahlgeschorenen Köpfe an die Wände warfen, ging etwas Beängstigendes aus. In unheimlicher Form gemahnten sie an ein Höllenbild.
    Tie-tie war zutiefst beeindruckt und griff mit klopfendem Herzen nach seinem Gebetskranz, als der Regent unter dem Gesang melancholischer Litaneien, die von dumpfen Tempeltrommeln begleitet wurden, langsam auf den in der Mitte des Heiligtums befindlichen Altar zuschritt, vor dessen matt erhellter Rampe er sich der Länge nach auf den Boden warf. Im gleichen Augenblick verstummte der Gesang und brach das Dröhnen der Trommeln ab. Totenstille herrschte, die minutenlang währte, bis jäh die Stimme eines Priesters ertönte, der in steigenden und fallenden Tonwellen mit virtuoser Geschwindigkeit »Om mani padme hum!« rief, dann aber mit einem Male seine Stimme dämpfte und die Rezitation in ein anhaltendes Gesumm übergehen ließ, das mit der Zeit jeden eigenen Gedanken verbannte. Und darauf war das Ritual abgestimmt; denn der Regent, der sich inzwischen erhoben und mit untergeschlagenen Beinen vor der Statue Buddhas Platz genommen hatte, blickte nun mit weitgeöffneten Augen wie geistesabwesend vor sich hin.
    Wie lange dieser Zustand dauerte, hätte niemand sagen können, da alle Versammelten in einen tranceähnlichen Zustand gerieten, der erst endete, als der im Meditieren und Herbeiführen visueller Vergegenwärtigungen wohlgeübte Hohepriester die mystischen Keimsilben »Ah, Kah, Mah« ausstieß. Ein Zittern überfiel ihn, und dann stammelte er atemringend: »Ich sehe einen See… Blaues Wasser… Flimmernde Wellen im Sonnenlicht… Ein zweistöckiger Golddachtempel… Von ihm führt ein gewundener Weg… Einfaches Bauernhaus… Fremdartige Bauweise… Fremdartige Bauweise… Fremdartige…«
    Zwei Lamas stürzten auf den Regenten zu und strichen ihm über die Stirn.
    Er schaute zu ihnen hoch, als käme er aus einer anderen Welt. Erst nach einer ganzen Weile erkundigte er sich, ob das Orakel einen Hinweis gegeben habe.
    »Ja!« jubelten über hundert Priester wie aus einem Munde. »O Kleinod in der Lotosblume! Der Himmel hat uns den Weg gewiesen!«
    Der Regent erhob sich und forderte einen Würdenträger auf, ihm jedes Wort zu wiederholen, das er im Trancezustand gesprochen habe, und als seinem Wunsche entsprochen worden war, seufzte er erlöst. »Om mani padme hum! Jetzt wissen wir, wo wir den Knaben suchen müssen, in den der 13. Dalai-Lama zur Wiedergeburt eingekehrt ist. Es gibt nur einen See, der nach seinem blauen Wasser benannt wird: der Kuku-nor. Ich bin gewiß, daß wir in seiner Nähe einen zweistöckigen Golddachtempel und ein Bauernhaus in fremdartiger Bauweise finden werden. Der Kuku-nor befindet sich ja nicht in Tibet, sondern in der chinesischen Provinz Tsing-hai. Noch in dieser Woche soll eine Abordnung aufbrechen, um das 14. ozeangleiche Oberhaupt der ›Gelben Kirche‹ zu suchen.«
    Nach Tagen geschäftiger Vorbereitungen setzte sich eine aus über hundert Yaks gebildete Karawane in Bewegung, die von einem ehrwürdigen Lama geführt und von zwanzig berittenen Militärs begleitet wurde. Weshalb letztere den Auftrag erhalten hatten, an der beschwerlichen, über fünftausend Meter hohe Pässe führenden Reise teilzunehmen, war den Expeditionsteilnehmern unerfindlich, da sie genau wußten, daß tibetische Soldaten im Falle einer Gefahr nicht zur Waffe greifen, sondern hurtig ihre Gebetsmühlen in Bewegung setzen würden. Dieses Wissen bedrückte jedoch niemanden. Im Gegenteil, den zur Auffindung des 14. Dalai-Lama Ausgesandten war es ein beruhigender Gedanke, daß es selbst im schlimmsten Falle zu keinem
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