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Das Weihnachtshaus

Das Weihnachtshaus

Titel: Das Weihnachtshaus
Autoren: Robin Jones Gunn
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Carlton Heath geführt. Und obwohl ich nicht genau verstand, was mich antrieb, spürte ich, dass ich es nicht nur wissen wollte, sondern dass ich auch auf mich aufmerksam machen wollte.
    Entschlossenen Schrittes erreichte ich den Brumpton Square. Dort erhob sich, ein wenig abseits von der Hauptstraße, das im viktorianischen Stil erbaute Gebäude für öffentliche Veranstaltungen. Acht eiserne Hirtenstäbe säumten den Zugang, und an jedem hing eine Laterne, die den Weg in der kristallklaren Luft beleuchtete. Immergrüne Girlanden schmückten den Eingang. Wunderschöner Schmuck aus Pfefferkuchen war überall an der Fassade des Gebäudes angebracht und verbarg dessen wahres Alter. Der Name Grey Hall stand in erhabenen Buchstaben über dem Eingang.
    Auf einer großen Tafel neben dem Eingang stand: «Eingeweiht am 19. Mai 1987. Die Gesellschaft des Grey Hall Community-Theater.» Das Gebäude war über ein Jahrhundert nach Dickens gebaut worden, trotzdem fiel es nicht schwer, sich vorzustellen, der Autor könnte an diesem Abend, an dem Vergangenheit und Gegenwart ineinanderzufließen schienen, anwesend sein.
    Ich stand vor den geschlossenen Türen und entdeckte keine anderen Theaterbesucher. Womöglich hatte ich den ersten Akt schon versäumt. Ich griff nach der langen Klinke an der Doppeltür und öffnete den rechten Flügel gerade so weit, dass ich ins Foyer schlüpfen konnte.
    Eine kleine Frau in einem fließenden rosa Abendkleid trat zu mir. Sie hielt einen behandschuhten Finger an ihre Lippen und bedeutete mir, ihr durch das Foyer nach links zu folgen, wo uns ein dicker blauer Samtvorhang vom Zuschauerraum trennte.
    Das kurze, wuschelige Haar der Frau war genauso rosa wie ihr Kleid und funkelte überall. Auf ihren perfekt geschwungenen Lippen lag dieselbe Bonbonfarbe, und rechts über ihrer Oberlippe war ein Edelstein zu sehen, ein ganz besonderes Schönheitsmal. Sie musste Anfang vierzig sein, trotzdem wirkte sie in ihrer Aufmachung, als ob ihr Herz viel jünger wäre.
    Schweigend schob sie den Vorhang zur Seite und nickte mir auffordernd zu, ich solle in den dunklen Zuschauerraum hineingehen. Ich trat ein und blieb an der Seite stehen, um zu warten, bis sich meine Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten.
    Eine dröhnende Stimme rief: «Nur herein, nur herein!»
    Es war der fröhliche Schotte. Einen Augenblick lang war ich wie erstarrt, denn ich dachte, die Einladung hätte mir gegolten.
    In Wirklichkeit waren die Worte an einen sehr kleinen Scrooge auf der Bühne gerichtet, der zitternd vor dem übermächtig wirkenden Mann im Kilt stand. Hinter dem Schotten stand eine Tür offen.
    Der Mann mit dem wollweißen Backenbart wiederholte seine Einladung. «Nur herein, nur herein, und lerne mich besser kennen, mein Freund!»
    «Wer seid Ihr, und wo bin ich hier?», rief Scrooge mit dünnem Stimmchen. In dem langen Nachthemd und der Zipfelmütze steckte ganz offenbar ein Kind als Hauptdarsteller.
    Alles, was mit Theater zu tun hatte, berührte mein Innerstes. Einige magische Bilder sind nie wirklich verschwunden, egal, wie sehr ich mich dagegen gewehrt hatte. Und so, wie ich mir vorhin gewünscht hatte, wie Lucy durch den Schrank nach Narnia zu gehen, war ich nun gefangen in dieser klassischen Figur von Dickens. Ich fand mich wieder in der winzigen Gestalt mitten auf der Bühne.
    Der Schotte trug ein gepflegtes Jackett zu seinem Kilt und einen flachen Hut mit einer Feder, den er ein wenig schief aufgesetzt hatte. Dichtes, lockiges weißes Haar drang unter dem Hut hervor. Im Teehaus hatte ich seinen kahlen Kopf gesehen und wusste, dass die Locken zu seinem Kostüm gehörten. Doch das volle Haar sah sehr echt aus.
    Der Schotte hatte seinen Einsatz und sagte: «Ich bin der Geist dieser Weihnacht.»
    Ich lächelte. Also war er wirklich der Geist dieser Weihnacht, wie er behauptet hatte.
    «Was wollt Ihr von mir, o Geist dieser Weihnacht?», fragte der junge Scrooge.
    «Tritt ein, und du wirst sehen.» Der Geist trat zur Seite. Die Tür wurde von unsichtbaren Bühnenhelfern zur Seite geschoben und gab den Blick frei auf eine wunderbare Weihnachtsstube mit einem flackernden Kamin, einen mit Lichtern geschmückten Baum, einen Berg von Geschenken und einen festlich gedeckten Tisch.
    «Alles ist bereit für dich», sagte der Geist dieser Weihnacht. «Nur herein.»
    Scrooge zögerte.
    In diesem Moment fühlte ich, wie sich mein Widerstand auflöste. Alles war bereit für Scrooge, und trotzdem zögerte er. Ich erkannte, dass ich
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