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Das Weihnachtshaus

Das Weihnachtshaus

Titel: Das Weihnachtshaus
Autoren: Robin Jones Gunn
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Buchstaben.
    Der nächste Zug nach London sollte in zwanzig Minuten fahren.
    Meine Uhr zeigte immer noch 11   :   58 Uhr. Wieder klopfte ich auf das Gehäuse und hielt es an mein Ohr. Kein Lebenszeichen.
    Vielleicht werde ich mir zu Weihnachten einen Mantel und eine neue Uhr kaufen. Oder wenigstens eine neue Batterie.
    Seufzend lehnte ich mich zurück. Ich war die einzige Reisende im Bahnhof. Außer mir hielt sich nur noch eine zweite Person in dem Gebäude auf, ein Mann, der auf einem Stuhl im Zeitungskiosk saß und vor sich hin döste.
    Ich blickte wieder auf die Uhr an der Wand und fragte mich: Wie spät ist es jetzt wohl in San Francisco?
    Im Grunde wollte ich es gar nicht wissen. Es gab niemanden in der Stadt an der Bucht, der darauf wartete, dass ich anrief. Niemand würde sich wundern, wenn ich Weihnachten nicht zum Abendessen kam. Im Büro hatte ich alles erledigt. Für andere war ich während der Feiertage gar nicht existent.
    Der Gedanke war nicht gerade tröstlich. Ich konnte das Land verlassen, oder sogar diesen Planeten, und nur sehr wenigen Menschen würde auffallen, dass ich nicht mehr da war.
    Was war nur aus meinem Leben geworden?
    Offenbar setzte ich meine Karriere, die schon sehr früh hinter der Bühne begonnen hatte, immer noch fort. Ich war unsichtbar.
    Weil ich unzufrieden war mit meiner Unsichtbarkeit, hatte ich mich letzte Woche dazu entschlossen, ein Ticket nach London zu kaufen. Während ich mitten in der Nacht hellwach im Bett gelegen hatte, entschied ich, dass ich mein Leben schon zu lange damit vertrödelt hatte, aus der Ferne auf einen Vater zu starren, an den ich glauben wollte. Sollte es ihn wirklich geben, dann musste ich es wissen. Wenn er aus irgendwelchen Gründen nicht bereit, willens oder in der Lage war, zu mir zu kommen, dann musste ich den ersten Schritt tun. Ich würde auf ihn zugehen und abwarten, was passierte.
    Deshalb war ich nun in England. Und nichts war passiert.
    «Na gut, ich habe es versucht», murmelte ich zu meiner Verteidigung. Ich war den Hinweisen nachgegangen und hatte Carlton Heath ausfindig gemacht, nur um herauszubekommen, dass es das Fotostudio nicht mehr gab. Was konnte ich sonst noch tun?
    Ich erinnerte mich an Katharines Bemerkung, dass sie glaubte, sie kenne das Foto. In Carlton Heath hatte höchstwahrscheinlich noch jemand einen Abzug von diesem Foto. Jemand, der etwas wissen könnte.
    Konnte ich jetzt wirklich wieder wegfahren, und würde ich es hinterher dann nicht bereuen? Wäre ich wirklich zufrieden, wenn ich nach San Francisco zurückkehren würde, im Gepäck nichts anderes als einen neuen Mantel oder irgendein anderes Weihnachtsschnäppchen? Was war mit den Antworten, die ich hier finden wollte?
    Niemand kannte den Zweck meiner Reise. Nur ich kannte ihn. Und ich wusste, dass ich mich in einer Woche, wenn ich wieder mitten in der Nacht hellwach in meinem Bett lag, fragen würde, warum ich so einfach aufgegeben hatte. Immerhin gab es ja jetzt eine kleine Spur.
    Ich dachte darüber nach, was Katharine über Entscheidungen gesagt hatte.
    Man kann jederzeit eine neue Entscheidung treffen.
    Minutenlang bewegte ich mich nicht. Ich dachte kurz, nur kurz, darüber nach, was es bedeuten würde, wenn mein kurzes Leben enden würde unter einer Decke aus kalter Erde. Könnte ich sterben, ohne dass ich vorher alles versucht hätte, meinen Vater zu finden?
    Ich richtete mich auf, drückte die Schultern durch, stand von der Bank im Warteraum auf, atmete tief ein und traf eine neue Entscheidung. Ich würde ins Theater gehen.
    «Fröhliche Weihnachten, Mutter», murmelte ich. «Ich werde mir ein Theaterstück ansehen.»

SECHSTES KAPITEL
    Grey Hall, wo das Stück von Dickens aufgeführt wurde, war leicht zu finden. Ich hatte den dösenden Mann im Zeitungskiosk geweckt, und er hatte mir mit dem schönsten Akzent, den ich bisher in meinen fast sieben Stunden auf englischem Boden gehört hatte, den Weg genau beschrieben.
    Vom Bahnhof führte er bergauf. Es war noch ein wenig kälter geworden, aber wenigstens hatte sich der Wind gelegt. Von der Anstrengung, bergauf zu gehen, wurde mir warm. Der Weg war länger, als ich erwartet hatte, und an der zweiten Kreuzung blieb ich zögernd stehen.
    Es ist nicht zu spät, zum Bahnhof zurückzugehen. Du musst das nicht tun.
    «Aber ich tue es.»
    Der Gedanke, dass ich es wissen musste, trieb mich an. Ich musste wissen, wer mein Vater war, und ich musste ihn kennenlernen. Der einzige Hinweis auf sein Leben hatte mich nach
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