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Das Wahre Spiel 01 - Der Königszug

Das Wahre Spiel 01 - Der Königszug

Titel: Das Wahre Spiel 01 - Der Königszug
Autoren: Sheri S. Tepper
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Abendessen.«
    Mit lautem Poltern jagte ich die Treppen hinunter, vorbei an den Kinderkrippen mit dem Geschrei der Säuglinge und dem fortwährenden Schwatzen der Betreuer, vorbei an den Schlafsälen und dem Geruch von nasser Wolle und Dampf aus den Waschräumen, in den geheizten Gemeinschaftssaal hinein, die Worte von Spielmeister Gervaise im Kopf. Er hatte recht. Bruder Chance sagte, daß nur die Mächtigen und die völlig Unwichtigen das Wahre Spiel lange überlebten. Wenn man das eine nicht war und das andere nicht sein wollte, war es nur vernünftig zu lernen. Trotzdem war es langweilig.
    An den Tischen der jüngeren Jahrgänge jagten sich die kleinsten Jungen gerade mit Schauergeschichten über die Länder der Unveränderlichen, in denen das Wahre Spiel nicht gespielt wurde, gegenseitig Angst ein. So etwas Dummes! Wenn es kein Wahres Spiel gab, was taten die Menschen dann? Am oberen Tisch zeigten die älteren Schüler, die kurz davor standen, ins Spiel entlassen zu werden, mehr Manieren und aßen schweigend unter den aufmerksamen Augen von Spielmeister König Mertyn und Spielmeister Waffenträger Charnot. Die meisten der über zwanzigjährigen Schüler trugen bereits ihre Namen: Schildwächter, Herold, Drache, Tragamor, Unterherold, Portierer. Man erzählte sich, daß die vollständige Liste Tausende von Spielfiguren enthalte, aber wir waren noch nicht alt genug, um BESITZTÜMER und MÄCHTE in vollem Umfang zu studieren.
    Am Besuchertisch an der Wand durchblätterte ein Magier ein Buch, während er in seinem Essen stocherte; die metallischen Dornen am Rand seiner Kopfbedeckung glitzerten im Licht des Kaminfeuers. Er saß ganz allein, der einzige Besucher, obwohl ich sorgfältig nach einem zweiten Ausschau hielt. Mein Freund Yarrel hockte eingekeilt weit hinten an einem langen Tisch, an dem kein weiterer Platz mehr frei war, so daß ich mich auf einer Bank nahe der Tür niederließ. Mir gegenüber saß Karl, das schwitzende rote Gesicht feuchtglänzend vom heißen Dampf der Speiseschüsseln.
    »Du hast dich vorhin ganz schön hineingeritten, Zimperliese. Spiel lieber mit dem Papiermodell bei den Kleinen.«
    »Ach, halt die Klappe, Schweißbacke«, sagte ich. Es machte keinen Unterschied, ob man freundlich oder fies zu Karl war. Er benahm sich immer garstig. »Du hättest es auch nicht besser gewußt.«
    »Hätt ich wohl. Das weiß ich alles von Großvater und Paps.« Auf seinem Gesicht breitete sich, nachdem er den Treffer gelandet hatte, das gewohnte überhebliche Grinsen aus. Karl war der Sohn eines Doyen, Enkel eines Doyen, die dritte Generation der Familie, die die Schule besuchte. Ich war ein Festivalkind, geboren neun Monate nach einem Festival, ausgesetzt auf den Stufen vor Mertynhaus, um dort aufgenommen und erzogen zu werden. Ich hätte genausogut von einer Kröte ausgebrütet worden sein können. Nun ja, ich besaß etwas, das Karl nicht besaß. Er konnte sich meinetwegen auf seinem Familiennamen ausruhen. Ich hatte etwas anderes.
    Obwohl sich die Lehrer nicht viel darum scherten, ob ein Schüler aus der ersten Generation oder der zehnten stammte. In diesem Raum waren mehr Findlinge versammelt als Jungen aus Familien. ›Sendlinge‹, die von ihren Familien draußen hierhergeschickt worden waren, besaßen nicht mehr Status als Findlinge, aber sie hatten den Hang dazu, sich zu verbünden. Es brauchte sie nur jemand wie Karl ein bißchen aufzustacheln, und sie verwandelten sich in eine Meute Jagdhunde. Nun, ich beabsichtigte nicht, wohlfeile Beute für sie zu werden. Statt dessen starrte ich über die lange Reihe kauender Kiefer und schlaffer Körper hinweg. So wie sie aussahen, fühlte ich mich auch – hungrig, von des Tages Kälte erschöpft, im Warmen schwelgend und dankbar für die baldige Nachtruhe. Ich dachte an das angekündigte Festival.
    Ich würde Glöckchen in meine Hosensäume und Bänder in die Schulternnähte meiner Jacke nähen, eine Maske aus Leder und vergoldetem Flitter fertigen und so gekleidet mit Hunderten anderer, gleich gekleideter Schüler klingelnd und lachend durch die Straßen der Schulstadt rennen, zu Trommeln und Trompeten tanzen und essen, was immer ich wollte. Während des Festivals war alles erlaubt, nichts wurde verlangt, keine langweiligen Studien, die Festivalhallen waren geöffnet, und Menschen kamen von DRAUSSEN, aus den Schulhäusern, von überall her. Glöckchen würden läuten, läuten …
    Das Klingeln entpuppte sich als Klirren meiner Schüssel und meines
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